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Die Lichter des Jahrmarktes färbten die Sterne rot und blau.

Mathilda hörte den Doktor nur nachts schreiben. Sie lag im Bett und hörte alles, was er tat. Die Kaffeetasse, die er vom Tisch nahm, einen Schluck trank und wieder zurückstellte. Das Anzünden eines Streichholzes und einer Zigarette. Natürlich hörte sie den Rauch nicht, der aus seinem Mund schwebte, aber sie konnte ihn sich jedes Mal vorstellen. Unter der Zimmerdecke, ein dicker, schwerer Camel-Nebel.

Zwar hatte Berender eine Schreibmaschine; sie war bereits im Zimmer gewesen, aber er benutzte sie nicht. Schwarz und schwer stand sie unter dem Fenster zum Hof hinaus. Wie ein Wächter oder ein Engel mit verbogenen, schwerfälligen Flügeln.

Seine alten, fleckigen Hände, die zusammen mit dem dünnen Bleistift über das Papier zitterten. Er radierte niemals etwas aus. Berender war ein Mann, der die Dinge durchstrich, wenn sie nicht mehr richtig schienen. Um ehrlich zu sein, klangen seine Worte oft nicht mehr richtig, sobald sie aus ihm herausgekommen waren. Das Gespenst verlor an Macht, wenn es dem Grab seiner selbst nahe kam. Er wusste das.

Berender war fast gleichzeitig mit dem Jahrmarkt in der Stadt angekommen. Ein Wetterleuchten hatte ihn angekündigt. Leere, vom ersten Regen nass gewordene Bänke und gekippte Stühle. Abgerissene Zweige auf dem brüchigen Asphalt; die Nächte brachten die Träume der Glücksscheibe. Die Ausläufer der Straßen wurden zu den Venen des Verderbens. Das Leben der kleinen Arbeiterstadt war nur noch ein kurzes, helles Aufflammen von Menschen, dort und da, verschwindend in ihren Häusern. Die Schatten der Küchenlampen malten sich auf die Vorgärten und schmalen Straßenstreifen.

Berender war aus dem Mittagsbus gestiegen, in jeder Hand einen kleinen Altmännerkoffer. Seine Blicke unruhig, flatternd, wie winzige Insekten im Regen.

Er sah die Straße hinunter und nickte. Er kam noch nicht zu spät. Die Dinge waren noch im Lauf.

Auch die Kinoleute waren in die Stadt gekommen. Sieben Männer, die an einem Mittwoch aus zwei VW-Bussen stiegen und sich in der Stadt umsahen. Ihre Fahrzeuge waren alt und von einem dreckigen Schwarz, auf jeder Seite stand in giftgrüner Farbe zu lesen:

Die Kinoleute sind in der Stadt.

Niemand kannte diese Männer, auch wenn einige glaubten, sie bereits einmal irgendwo gesehen zu haben; dunkle Ahnungen von vergangenen Episoden.

Viele Jahre später, als Berender abermals in die Stadt kam, um die Grillenfänger zu finden, erzählte er Mathilda, dass sie immer in eine Stadt kamen, sobald es ein Kind gab, das die Gespenster im Schneetreiben sehen konnte. Sie wirklich und wahrhaftig zu sehen vermochte, nicht nur zu erahnen. Der Schnee, so sagte Berender, mache die Gespenster manches Mal ein wenig sichtbar für diese Kinder, immer nur ganz kurz, so, als hätte man sich beim ersten Hinsehen getäuscht, und beim zweiten Hinsehen war schon wieder alles vorbei.

An diesem Sommertag jedoch wusste Mathilda nichts von den Gespenstern und den wirklichen Absichten der sonderbaren Männer, die über Nacht in die Stadt gekommen waren. So gut wie niemand sprach mit ihnen. Die meiste Zeit waren sie auch wie vom Erdboden verschluckt. Hätten nicht die zwei Busse hinter dem Zirkuszelt gestanden, hätte man sie vermutlich auch wieder vergessen. Jedenfalls bis zu dem Nachmittag, als plötzlich an jedem Strommast und an jeder Ecke ein Plakat zu finden war. Überall standen Leute, die sich das grüne Stück Papier ansahen. Obwohl Mathilda erst zwölf Jahre alt war, kam es ihr vor, als kenne sie das Plakat schon eine Ewigkeit. Geschwungene Schrift, die zu verwischen drohte, je länger man sie ansah, dazwischen und eigentlich überall winzige Augen, die einen anstarrten und die einen verfolgten, egal wohin man auch gehen wollte.

Es war zu lesen:

Eine unglaubliche Vorstellung!

Sehen SIE in das Auge, und wir sehen in Ihre Seele.

Nur drei Tage!

Versäumen Sie nicht dieses Abenteuer.

Mathilda hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Natürlich würde sie ihren Vater oder ihre Mutter danach fragen, am besten gleich beim Abendessen. Vielleicht würde sie sogar von den vielen kleinen Augen erzählen, aber das wusste sie noch nicht sicher. Sie waren ihr unheimlich, sehr unheimlich sogar. Vielleicht war es besser, nicht davon zu erzählen. Auf jeden Fall ahnte sie, dass sie davon träumen würde. Ihre Träume waren manchmal kurze schlechte Nachrichten aus ihrem Bauch. Träume von Steinen, die in ihren Hosentaschen waren, so schwer, dass sie kaum noch gehen konnte. Träume von riesigen Menschen, deren Schatten sie sehen konnte, lange bevor sie die Menschen selbst sah. Unendlich lange Arme und Beine, viel zu kleine Köpfe, die mit dem Wind hin und her wackelten. Mathilda sah sich die Augen noch einmal an, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte. Es war, als müsste sie in diese Augen blicken, in die winzigen Pupillen, diese kleinen Punkte, die wie Löcher im Papier waren, und hinter dem Papier endlose ewig dauernde Nacht.

»Nimm dich in Acht vor dem Auge, nimm dich in Acht. Sieh nicht zu lange in das Auge, sonst sieht das Auge in deinen Kopf«, sagte plötzlich jemand, und Mathilda erschrak. Links neben ihr stand ein kleiner Junge, vielleicht acht, neun Jahre alt; er blickte auf den Boden. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein Gesicht war bleich. Dann drehte er sich um und lief davon. Mathilda hatte ihn nicht einmal fragen können, was er damit meinte.

Die erste Vorstellung der Kinoleute war für den nächsten Tag geplant. Heruntergerissene Plakate schienen über Nacht nachgewachsen zu sein. Warum auch immer zählte Mathilda die Plakate schon am ersten Tag, und sie fand genau siebenundvierzig davon in der Stadt. Eines davon, das Letzte, das sie gezählt hatte, und das in einer schmalen Seitenstraße an einem Stromkasten hing, nahm sie herunter, faltete es und steckte es sich ein. Natürlich würde sie es nie mehr im Leben aus ihrer Jeans nehmen, nicht einmal für viel Geld, aber das war auch nicht der Grund, weshalb sie es getan hatte. Vermutlich würde ihre Mutter es beim nächsten Waschen finden, es kurz ansehen, den Kopf schütteln und es wegwerfen. Vielmehr wollte Mathilda herausfinden, ob es am nächsten Tag wieder dort sein würde.

Am nächsten Morgen nahm sie einen Umweg zum Rummelplatz, zählte dabei vier der Plakate und kam schließlich in die Seitenstraße. Sie war nicht einmal sonderlich überrascht, denn sie sah es schon von Weitem leuchten. Dieses scheußliche Grün, giftig, als würde es bei Gewitter glimmen können. Als Mathilda näher kam, sah sie etwas, das sie nie mehr in ihrem Leben vergessen sollte. Sie sollte davon träumen, harte und schmerzvolle Träume, weit über ihre Kindheit hinaus. Eines der unzähligen Augen war verschlossen. In winziger Handschrift stand unter dem verschlossenen Auge:

Jeder Dieb wird bestraft – vor allem kleine, freche Mädchen!

Mathilda rannte davon, als würde sie um ihr Leben laufen. Vielleicht tat sie das auch.

Amerika-Plakate

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