Читать книгу Amerika-Plakate - Richard Lorenz - Страница 13

6

Оглавление

Berender war ein eigenartiger Mann. Er hatte das winzige Zimmer in ihrem Haus genommen, obwohl es viel schönere und viel größere Zimmer in der Stadt gab, die man hätte nehmen können. Mathilda verstand das nicht. Das Zimmer, das einmal Mathildas Großvater gehört hatte, war eigentlich kein richtiges Zimmer. Es gab zwei Stühle, einen Tisch, ein Bett und sonst eigentlich nichts darin. Die Schreibmaschine, die ihr Großvater mit nach Hause gebracht hatte, als Mathilda noch nicht einmal geboren gewesen war, und die er nie benutzt hatte. Es schien, und das dachte sich Mathilda in jenen Tagen zum ersten Mal, als hätte ihr Großvater diesen Raum nur für diese eine alte Schreibmaschine gebraucht, die einfach nur so herumstand.

»Genau richtig für mich«, hatte Berender gesagt, die Miete für eine Woche bezahlt und war darin verschwunden, als wäre er nie aufgetaucht.

Das Zimmer lag neben Mathildas Zimmer, das viel größer und viel schöner war. Ihr Bett stand an der Seite zu diesem Zimmer, und deshalb konnte sie auch alles hören. Vermutlich, oder eigentlich ganz sicher, hätte ihre Mutter ihr verboten zu lauschen, aber wenn man ehrlich war, war es ja eigentlich gar kein Lauschen. Mathilda hörte ihn herumgehen, seine Koffer auf- und zuschnappen, Papier rascheln, und sie hätte alles verwetten können (selbst ihre Murmelsammlung mit den drei blauen Murmeln), dass sich der fremde Mann an die Schreibmaschine setzen würde. Aber er tat es nicht. Setzte sich an den Tisch – sie hörte den Stuhl auf dem alten Holzfußboden – und rauchte. Weiß Gott, was der alte Mann dort drüben vorhatte. Mathildas Mutter hatte gesagt, dass es sie nichts anginge und das Geld ihnen gerade recht kommen würde, jetzt, wo die Ölpreise wieder gestiegen waren. Aber unheimlich war es ihnen allen dennoch. Das Zimmer hatten sie noch nie vermietet, es hing ja nicht einmal ein Schild im Küchenfenster, wie bei den Schneiders. Schnurstracks war der Mann zu ihrem Haus gekommen und hatte nach einer Bleibe für höchstens eine Woche gefragt. Wahrscheinlich werde es nicht einmal für so lange nötig sein, hatte er gesagt.

»Was in aller Welt meint er damit?« Sie saßen beim Abendessen, und Mathildas Vater fragte es noch einmal, als hätten sie ihn beim ersten Mal nicht gehört.

»Aber so hat er es gesagt«, sagte Mathildas Mutter.

»Vielleicht hat er etwas zu erledigen«, sagte Mathilda selbst.

»Wer weiß, vielleicht gehört er zu diesen Kinomenschen«, sagte ihr Vater, aber eigentlich glaubte das niemand an diesem Tisch so recht. Der Mann, der sich als Berender vorgestellt hatte, nur als Berender, kein Vorname oder sonst etwas, sah bei aller Welt nicht wie jemand aus, der in einem Bus herumfuhr, um Leute an der Nase herumzuführen. Mathilda fand, dass er eher wie jemand aussah, der sich nicht an der Nase herumführen ließ. Wie jemand, der etwas suchte und es auch finden konnte.

In der ersten Nacht war es Mathilda etwas mulmig gewesen. Berender stieg mittags aus dem Bus, nahm das Zimmer und war seitdem nicht mehr herausgekommen. Ihre Mutter hatte ihn gefragt, ob er mit ihnen zu Abend essen wolle, aber er lehnte dankend ab.

»Er hat gesagt, er hätte noch einiges zu erledigen.«

»Was in aller Welt meint er damit?«, sagte Mathildas Vater und schüttelte den Kopf.

Vielleicht war er ja auch ein Schriftsteller, der sein Buch fertig schreiben wollte und nur noch nicht den richtigen Ort dafür gefunden hatte, dachte sich Mathilda und das klang wenigstens einigermaßen plausibel. Auf jeden Fall schrieb er, sie hörte den Bleistift leise auf dem Papier kratzen, wenn sie ganz, ganz fest ihr Ohr an die dünne Wand drückte. Wenn sich Mathilda anstrengte, konnte sie ihn sogar atmen hören. Alles dort draußen, der Wind und die eigenartigen Geräusche, die in einer jeden Kindheit wohnten, wurden leiser, bis sie kaum mehr zu hören waren. Dort drüben war ein alter Mann, und Mathilda fühlte, dass es gut war, dass er hier war. In dieser Stadt, in diesem Zimmer.

»Soll ich dir einen Traum geben? Es ist in Ordnung.«

Natürlich konnte Mathilda das nicht wirklich gehört haben. Aber dennoch rückte sie ganz nahe an die Wand und flüsterte ihre Zustimmung.

Kaum zwei Minuten später war Mathilda eingeschlafen. Von Steinen träumte sie nicht, auch nicht von den vielen kleinen Augen der Welt da draußen.

Sie träumte von Grillen, und dass jede Grille einen Gedanken in sich trägt. Vergessene, helle Geheimnisse, die in alle Himmelsrichtungen getragen werden, unbemerkt.

Sodass kein Traum …

Einige Kinder, es mussten Freunde sein, suchten nach einer wichtigen Grille. So etwas wie Peter Pans Träume, verstreut.

… verloren geht.

Dunkle böse Menschen, die ebenfalls auf der Suche waren und ihre Hände um die Herzen der Kinder legten, um sie zu fangen. Dann zu zerschneiden, wie die Papierherzen an den Fenstern der Schulen und Kindergärten.

Sie wohnen in den Wäldern, hocken auf den Ästen und warten, bis die Grillenfänger nach Norden ziehen.

Die große Reise, um alles in Sicherheit zu bringen.

Sie spürte ein Herz, und als Mathilda in dieser Nacht kurz aufwachte, war der Name eines Mädchens noch sehr stark und noch sehr frisch. Ein Mädchen, dem sie begegnen wollte und vielleicht auch musste. Das Mädchen mit dem Herzen einer Löwin. Suzanne.

Amerika-Plakate

Подняться наверх