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SCHNEE IN IHREN HAAREN

(Leibrands Schrankgeschichte über die Liebe)

Es ist die Vergebung, die man sucht, und mit der Vergebung die Erlösung. Die Schatten bewegen sich mit jedem Schritt, und je länger die Tage des Lebens werden, desto länger werden die Schatten und die Träume darüber. Wir können nur einmal leben, und gerade diese Gewissheit erfüllt uns mit der Schuld, die wir zu tragen haben. Sie erwischt uns in schlaflosen Nächten, und wenn sie kommt, ist man nicht einmal sonderlich überrascht.

Robert Fels ging die Treppe zum Keller hinunter, langsam. Die ersten Novembertage waren die schlimmsten Tage des Jahres, denn der Schnee lag bereits in der Luft; man konnte ihn beinahe riechen. Der Wetterbericht kündigte den ersten Schneefall erst in einigen Tagen an, aber Robert war sich da ganz und gar nicht so sicher. Er träumte vom Schnee, und dass er unter dem Schnee begraben war.

Der Keller war klein und niedrig, und im Grunde gab es nur zwei Räume dort. Vollgestopft mit alten Dingen, nutzlosem Kram und einigen Fahrrädern, alten rostigen Dingern, die nie mehr zum Leben erweckt werden würden. Daneben ein Raum, den er vor Helen manches Mal im Sommer als Lesezimmer genutzt hatte. Dort war es nie sonderlich kalt oder sonderlich heiß, dort schien es im Grunde nur die Temperatur zu geben, die man sich wünschte. Von Mäusen und Menschen und Wer die Nachtigall stört hatte er dort nach vielen Jahren wieder einmal gelesen, während Helen oben den Salat zubereitete und das Brot schnitt, das Radio lief und der Sommer durch alle Fenster in jedes Leben trat. Helen war etwa ein Jahr bei ihm gewesen, war so plötzlich in sein Leben nach Emma gekommen, wie man plötzlich auf dem Jahrmarkt in die Achterbahn einsteigt. Ein merkwürdiger Sommertag, ähnlich einem Sommertag seiner Kindheit, als die Welt dort draußen rein und glücklich war und einen beschützen konnte vor dem Alkoholungetüm in ihrem Haus, das manches Mal in guten Zeiten sein Vater war und in schlechten Zeiten das unberechenbare Monstrum vor Mitternacht. Plötzlich saß er zusammen mit ihr an einem schmutzigen kleinen Tisch in einem Café-Hintergarten und hatte ihr von seinem Vater erzählt, fast den ganzen Nachmittag lang. Durch ihre langen, dunklen Haare sah er die Sonnenstrahlen der vergessenen Welt funkeln, und für einen Augenblick war ihm danach, an ihren Haaren riechen zu wollen, nur um einen Moment wieder glücklich sein zu können.

Es waren gute Sommertage, und fast zwei Wochen später stand sie vor seiner Tür, zwei Koffer bei sich. Weinte. Natürlich wusste er, dass sie ihren Freund verlassen hatte, und natürlich wusste er auch, dass sie es nicht wegen ihm getan hatte. Ihr Freund war jenes Gespenst, das ihn heimsuchte, wenn sie neben ihm lag und er so lange wartete, bis sie endlich eingeschlafen war. Robert hätte es ihr niemals im Leben erzählt, dass sie manches Mal im Schlaf den Namen ihres Freundes flüsterte. Jede einzelne Silbe fing er im Dunkel des Raumes auf und verschluckte sie.

Damals war der Keller nur etwas Nebensächliches gewesen, er hatte dort seine Bücher gelesen und zwei, drei Mal hatten sie sich dort geliebt, mehr nicht. Heute war der Keller der Ort, an den er zurückkehren musste, wenn das Wetter umschlug und der Herbst so kalt wurde, dass der Winter hereinbrach. Sämtliche Bücher, die dort einmal gewesen waren, hatte er nach oben gebracht. Jetzt waren dort nur noch unzählige kleine Dosen, im ganzen Raum verstreut. Natürlich hatte er jeden Schnee, jede einzelne Schneeflocke, aufbewahrt.

»Der Schnee schmilzt nicht, solange ich an dich denke«, hatte Helen geflüstert und einen Teil der Buchstaben verschluckt, als sie ihn auf die Wange küsste. Sie beide waren in ihrem einzigen Winter zusammen die schmale Straße runtergegangen, während aus den Geschäften Weihnachtsmusik kam und der Schneefall einsetzte und wieder verebbte. Der Himmel hing so tief, dass man ihn hätte beinahe berühren können. Große dicke Flocken bedeckten ihr Haar und machten es schließlich weiß.

Natürlich hatte sie es nur einfach so gesagt, aber egal wann Robert auf den Schnee in ihren Haaren blickte, schien er nicht schmelzen zu wollen. Seine Haare waren bereits durchnässt, und er fragte sich, wie in aller Welt er seine Mütze zu Hause hatte vergessen können. Der Schnee glitt an ihr herunter, als würde sie es einfach nicht wollen, dass er schmolz. Weshalb Robert über ihre Haare strich, als sie die Straße zum Café überquerten, und dabei eine Handvoll Schnee in seinen Fingern zu einer kleinen Kugel formte, wusste er nicht. Vielleicht, weil man Dinge vorhersehen kann, die man eigentlich nicht vorhersehen möchte, weil sie einem wehtun. Sie tranken heißen Glühwein vor dem Café im Stehen, während ihr Atem wie Zuckerwatte zum Himmel stieg.

Schnee schmilzt irgendwann, so viel steht fest, jedes Kind weiß das. Aber selbst heute, zwölf Jahre danach, ist dort, in der alten Tabakdose, immer noch der winzige Schneeball, den er vor zwölf Jahren in seiner Jackentasche versteckt hatte. Durch das kleine Fenster des Kellers sah Robert, dass es nicht mehr regnete. Die ersten Schneeflocken drangen in sein Leben. Wie die Jahre zuvor, ging er zu dem einzigen Fenster des Raumes, blickte noch einmal durch das schmutzige Glas nach draußen, sah Schneeflocken von einem dunklen Himmel fallen und öffnete es. Die erste Kälte war erschreckend fremd und schnitt in sein Gesicht, als wäre es der Atem der Ungeheuer seiner Kindheit.

Er hatte es bereits nach dem ersten Kuss geahnt, oder besser gesagt, er hatte es bereits während des ersten Kusses gewusst – sie war das Mädchen mit dem Schlag seines Herzens, obwohl er nie geglaubt hätte, sie jemals wiederfinden zu können.

Der Schnee fiel durch das Fenster in den Raum, machte den Boden weiß und unberührt. Windböen trieben glitzernde Fragmente durch die Luft, die sich wie Staub auf die Tagebücher legten. An die fünfzig mussten es inzwischen sein, jedes davon eng beschrieben mit kleiner, krakeliger Kinderschrift. Keine Buchstaben – Striche, Punkte, unförmige Kreise, wie Kinder schreiben, bevor sie zur Schule gehen. Hier unten war alles anders, die Welt hier unten drehte sich langsam und behäbig. Hier unten war alles noch am Leben, was dort oben längst begraben war, begraben und verfault.

Roberts Vater war das Ungeheuer seiner Kindheit gewesen. Er sprach mit keinem Menschen darüber, nicht einmal mit seiner Mutter. Natürlich gab es Andeutungen, stille Bemerkungen, wenn der stämmige klobige Mann aus dem alten VW stolperte und die Fahrt der Geisterbahn begann. Alles verlief nach einem festen Plan, von dem man wusste, dass er funktionieren konnte, wenn alles gut lief. Keine dummen Fragen zu dieser Zeit, Mutter arbeitete stumm in der Küche, Robert ging in sein Zimmer, um zu warten, was passieren würde. Die Zimmertüre nur angelehnt, ruhig sitzend auf dem Boden neben der Tür und hoffend, dass nichts geschehen würde. Meist waren es nur dunkle böse Wortfetzen, die wie ein weit entferntes Gewitter durch das Haus hallten, mehr nicht.

Um dem Ungeheuer zu entkommen, versteckte sich Robert in dem Kleiderschrank in seinem kleinen Zimmer. Er war klug genug, es zu verstehen. Es gibt Wege und Straßen, die keinen Anfang und kein Ende haben, nicht einmal einen Platz zum Ausruhen. Es sind dunkle enge und lange Wege, und sie existieren nur im Kopf und es ist immer Nacht, mondlose, kalte Nacht, wenn man sie beschreitet. Seit Robert sechs Jahre alt war, versteckte er sich in dem Kleiderschrank seines Zimmers. Vermutlich hatte er sich auch schon früher dort versteckt, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Die Schreie und die Geräusche der Nacht hatten seine frühe Kindheit, alle Sonnen- und Regentage, ausgelöscht, als wären sie niemals passiert. Seine Mutter wusste von diesem Versteck, auch wenn sie ihn nie danach fragte. Eines Tages hatte sie eine Taschenlampe, eine Decke und ein altes zerschundenes Notizbuch dort hineingelegt. Einige Monate lang hatte Robert das kleine Büchlein, gebunden in dunkelblauem Leder, kaum angesehen, nur hin und wieder wie einen Talisman an sich gedrückt.

Robert konnte außer einigen Buchstaben nichts schreiben, aber das war auch nicht sonderlich wichtig in dieser Zeit. Es waren schließlich auch die Buchstaben und Wörter des Ungeheuers dort draußen, der Erwachsenen und der Mörder. Hier im Kleiderschrank, zwischen alten Hosen und dicken Winterjacken, waren ein anderes Leben und andere Geschichten, geschrieben mit anderen Buchstaben. Irgendwann, als ein Streit so laut geworden war, dass Robert wirklich Angst hatte, das Ungeheuer würde seine Mutter mitten in der Küche umbringen, und er gekreischte Wortfetzen vernahm, die ihm beinahe den Atem stahlen, ging der Junge fort aus diesem Haus, ohne einen Fuß aus dem Kleiderschrank zu setzen. Böse Menschen können einen verfolgen und jagen, aber sie können niemals hinter die Augen blicken. Hätte man den Jungen beobachtet, als der Stift über das Papier glitt und Kinderbuchstaben malten, die keinen Sinn ergaben, hätte man fast glauben können, er würde schlafen. Seine Augen waren geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. Er atmete schnell und hastig, als würde er sich daran machen, ein Hindernis auf einer großen Wiese zu überspringen, und vielleicht tat er das auch.

In Wirklichkeit übersprang er das Hindernis der Kindheit, um in eine Traumwelt zu gelangen. Diese Welt schien schon immer dort gewesen zu sein, wenngleich er sie nie beachtet hatte. Verborgen und still, so unglaublich schön still, dass ihm ein Lachen entwich. Alles Schreien und alles Drohen war verstummt. Das Weinen seiner Mutter und die hastigen Schritte im Flur. Dort war nichts, außer dem Gezwitscher von kleinen bunten Vögeln am Himmel. Er sah sich um, und er sah sie sofort zwischen den hohen Bäumen stehen. Beinahe schien es, als hätte sie dort auf ihn gewartet.

Helen schien ein Leben lang dort gewesen zu sein, vielleicht war sie sogar dort geboren worden. Sie war keine Verlorene, keines von den anderen Kindern, die hier wieder lernten, mit den richtigen Augen zu sehen und mit den richtigen Ohren zu hören. Man konnte es sofort sehen, dass sie nichts zu befürchten hatte. Robert traf sie beinahe jedes Mal dort, als würde sie merken, wann die Gefahr zu groß für ihn wurde.

»Man kann hier nicht für immer sein«, sagte das Mädchen Helen für gewöhnlich immer dann, wenn Robert nicht mehr gehen wollte.

»Lass uns zu dem großen Baum gehen, damit du einen guten Traum für zu Hause hast, ja?« Das war immer Helens Vorschlag, und Robert nickte, weil er gerne zu dem alten Baum mit ihr ging. Sie hatte ihm diesen schon am ersten Tag gezeigt, hatte seine Hand genommen und war durch das große Loch an den Wurzeln, das ein Blitzschlag verursacht haben musste, in den Baum geschlüpft. War es draußen auch immer Sommer, fiel hier Schnee. Aber er war nicht kalt oder unangenehm auf der Haut. Es war wunderbar, hier zu sein, es war wunderbar, sich in den Schnee zu setzen, den Kopf in das Genick gestreckt, um nach oben in den eigenen kleinen Himmel des Baumes zu blicken. Sternengebilde und Wolkenfragmente, alles war dort.

»Solange man glaubt, kann der Schnee nicht schmelzen«, hatte Helen geflüstert, und es stimmte wirklich. Der Schnee lag wie Zucker auf ihren Haaren.

»Ich glaube, dass mich mein Vater hasst«, flüsterte Robert und weinte ein wenig.

»Ja, ich glaube auch. Es ist, als wäre er schon lange tot. Er hasst dich, weil er schon als Kind gestorben ist«, sagte Helen leise, drückte sich an Robert und küsste ihn verstohlen auf den Mund. Ein Herz wechselte den Besitzer, in diesem Moment, und als Helen aufstand und sich den Schnee von ihrer Hose wischte, war es ihnen beiden klar. Er hatte ihren und sie seinen Herzschlag.

»Er wird dich jetzt nicht mehr finden können, und das ist gut so«, sagte Helen und lächelte.

Und es war wirklich so: Das Ungeheuer in ihrem Haus war nicht verschwunden, aber es hatte sich verändert. Es trat noch heran an das Bett des Jungen, aber es verweilte dort nicht mehr. Jeder Schrei verlor an dunklen Episoden und an dunklen Träumen darin.

Der Mörder ging aus seinem Leben. Manches Mal hörte Robert seine Mutter weinen, aber das war nicht das Schlimmste. Wenn sie weinte, war es schlimm. Schlimmer war es, wenn sie nicht mehr weinen konnte. Wenn Robert sein Stöhnen hörte, dieses schmutzige Stöhnen, wenn er etwas tat, das Robert nicht wissen, das er nicht hören wollte, aber hören musste, da manches Mal die Wände des Hauses zu Papierwänden wurden. Er tat ihr weh, furchtbar weh, doch Robert war nur ein Kind, das niemandem helfen konnte. Gebete, die mit den Wolken davonzogen, und als es endlich, endlich still wurde, war es, als würde Robert zwei Leben sterben müssen.

Helen, die jeden Schmerz von ihm nahm, mit einem einzigen Kuss.

Auch Robert glaubte, dass der Schnee nicht schmelzen konnte. Nicht, solange man daran glaubte. Durch den Kleiderschrank in der anderen Welt hörte Robert ihr Weinen. Hörte es durch seine Ohren bis zu seinem Bauch hinunter.

Du musst mir helfen, Helen. Du musst mir helfen, bitte.

Ja, ich werde dir helfen.

Es ist so schlimm, es ist so furchtbar schlimm.

Ist es schlimmer, als einen Menschen umzubringen?

Es ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.

Helen nahm seine Hand in ihre eigene und füllte beide Hände mit Schnee.

Es hat alles seine Richtigkeit, glaub es mir. Helen, die sich an ihn drückte.

Dinge ändern sich manchmal, und manchmal ändern sie sich zu etwas Besserem. Sein Vater konnte nicht mehr aufwachen, weil er den Herzschlag seines einzigen Sohnes nicht mehr hören konnte. Er würde alles kalt machen, und mit der Kälte würde das Ungeheuer schwach werden. Nicht heute und nicht morgen. Aber irgendwann.

Robert schloss einen Moment seine Augen, als er am Bett seiner Eltern stand. Vor einer Stunde oder länger war er aus dem Kleiderschrank gekommen. Das Schreien und das Stöhnen, das Weinen hatten aufgehört. Er dachte einen Augenblick nach. Wäre er nicht acht Jahre alt, sondern viel, viel älter, würde er diesen Mann, der dort lag, einfach erschlagen. Würde in die Garage gehen und etwas holen, womit er es tun konnte. Einen schweren Hammer vielleicht, oder das Beil, mit dem sein Vater im Herbst das Holz für den Küchenofen spaltete. Er würde das Beil über seinen Vater erheben und es niederfallen lassen, so oft es nötig sein würde. Er würde das unheimliche Band in die Welt der Ungeheuer mit einem Hieb durchtrennen, und er würde glücklich dabei sein. Er öffnete seine Augen und sah seinen Vater auf der rechten Seite liegen, nackt und betrunken. Robert griff zuerst in seine rechte Hosentasche und holte den Schnee heraus, den ihm Helen gegeben hatte. Hier fühlte er sich kalt, eisig an. Es war gut so.

Der Schnee fiel, als würde er vom Himmel fallen.

Es ist die Vergebung, die man sucht. Die Vergebung und die Erlösung.

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