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a) Vertikale Erschöpfung

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Neben förmlichen Rechtsmitteln muss der Bf. sämtliche für ihn zugängliche Rechtsbehelfe einlegen, die hinreichend geeignet sind, dem behaupteten Konventionsverstoß abzuhelfen und die der Betroffene selbst initiieren kann (vertikale Erschöpfung). Dies gilt grundsätzlich auch, wenn eine Kontrollinstanz nur eine (auf Rechtsfragen) beschränkte Prüfungsbefugnis hat[115] oder wenn für ein bestimmtes Rechtsmittel erst die Annahme erforderlich ist (vgl. § 313 StPO) bzw. sogar beantragt werden muss und diese unsicher ist.[116]

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Wendet sich der Bf. gegen ein staatliches Handeln oder einen staatlich herbeigeführten Zustand, so muss er auch solche Rechtsbehelfe einlegen, mit deren Hilfe zwar nicht die diesem Handeln oder Zustand zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände, zumindest aber deren rechtliche Voraussetzungen durch eine Vorinstanz beurteilt werden können.[117]

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Zu den zu erschöpfenden Rechtsbehelfen im deutschen Strafverfahrensrecht gehören – je nachdem, ob sich die Beschwerde gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme, einen bestimmten Verfahrensgang oder den Abschluss des Verfahrens als solches richtet – die klassischen Rechtsmittel der Beschwerde, Berufung und Revision (§§ 304, 310, 311, 312, 333, 335 StPO), sonstige förmliche Rechtsbehelfe (Einspruch gegen Strafbefehl, § 410 StPO; Antrag auf gerichtliche Entscheidung, u.a. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO ggf. mit der Möglichkeit der Beschwerde; Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), die Gegenvorstellung[118] bzw. der Antrag auf Gewährung nachträglichen Gehörs (§§ 33a, 311a, 356a StPO)[119], spezielle Rechtsbehelfe, wie z.B. die Haftprüfung (§ 117 StPO) oder ein Befangenheits-/Ablehnungsantrag (§§ 24, 74 StPO), Beweisanträge sowie sonstige informelle Anträge und Anfragen,[120] z.B. (wiederholte) Anträge auf Akteneinsicht/Zugang zur Verfahrensakte[121], soweit diese effektive Abhilfe versprechen, wie auch alle Zwischenrechtsbehelfe (namentlich § 238 Abs. 2 StPO) [122] und sonstige (effektive) Widerspruchsmöglichkeiten.[123]

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Setzt sich das Strafgericht überhaupt nicht mit der vorgetragenen fallrelevanten Rüge der Verletzung der EMRK und der einschlägigen Judikatur des EGMR auseinander, ist die Erhebung einer Anhörungsrüge ratsam – andernfalls riskiert der Betroffene, dass seine spätere Verfassungsbeschwerde wegen Subsidiarität als unzulässig abgewiesen wird.[124] Dem Bf. bleibt ansonsten lediglich die Möglichkeit, sich (nach Abweisung der Verfassungsbeschwerde) an den EGMR zu wenden und in seiner Beschwerdeschrift gerade diesen Missstand zu rügen.[125]

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Sieht das nationale Recht verschiedene Rechtsbehelfe vor, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob alle (neben- oder nacheinander) beschritten werden müssen. Kann eine Abhilfe der Konventionsverletzung über unabhängig nebeneinander bestehende Rechtsbehelfe erreicht werden, wird es in der Regel genügen, wenn derjenige gewählt und bis zur letzten Instanz verfolgt wird, der die größte Effektivität verspricht. Neben diesem braucht ein Rechtsbehelf, der im konkreten Fall kaum bessere Erfolgsaussichten hat, nicht zusätzlich ergriffen werden.[126]

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Nach erfolglosem Durchlaufen der Fachgerichtsbarkeit ist Verfassungsbeschwerde zum BVerfG einzulegen, auch wenn deren Annahme ungewiss ist (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; § 93a BVerfGG).[127] Dass der EGMR die Verfassungsbeschwerde in außerstrafrechtlichem Kontext (zur Verfahrensbeschleunigung) als nicht-effektiven Rechtsbehelf i.S.v. Art. 35 Abs. 1 EMRK angesehen hat[128], darf nicht dazu verleiten, auf die Anrufung des BVerfG zu verzichten.[129] Nimmt das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde ohne weitere Begründung nicht zur Entscheidung an, geht der EGMR regelmäßig von der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsbehelfs aus, auch wenn die Regierung in der Stellungnahme Gründe für die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vorbringt. Der Gerichtshof sieht es nicht als seine Aufgabe an, über die Gründe der Nichtannahme zu spekulieren.[130]

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Ob eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit vor dem Gang zum EGMR angerufen werden muss, ist dagegen noch nicht eindeutig geklärt.[131]

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Eine Strafanzeige (ggf. mit anschließendem Klageerzwingungsverfahren) kann ebenfalls ein wirksamer Rechtsbehelf gegen ein sowohl strafbares als auch konventionswidriges Verhalten sein, wenn der Ausgang des Strafverfahrens dem behaupteten Konventionsverstoß abhelfen kann.

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Eine Klage vor den Verwaltungs- oder Zivilgerichten ist (nur dann) erforderlich, wenn mit ihrer Hilfe der geltend gemachte Konventionsverstoß beseitigt werden kann, z.B. weil die Überprüfung einer speziellen strafprozessualen Fragestellung diesen Gerichten ausdrücklich zugewiesen ist (z.B. Kontrolle von Sperrerklärungen analog § 96 StPO).

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Die Erhebung einer Klage auf Schadensersatz bzw. Entschädigung wurde vom Gerichtshof in Fällen, welche die Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 EMRK betrafen, als zu erschöpfender Rechtsbehelf angesehen; die Frage wird aber selbst in der Straßburger Judikatur uneinheitlich beantwortet.[132] Es hängt letztlich vom Rechtsschutzziel des Betroffenen ab, ob eine Schadensersatzklage den Konventionsverstoß beheben kann.

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Nach der gesetzlichen Regelung der Verfahrensabsprache (v.a.) in § 257c StPO ist zu erwarten, dass der EGMR auch ein Hinwirken auf eine solche Absprache als möglichen Rechtsbehelf interpretiert, wenn sich aufgrund einer solchen Absprache der behauptete Verfahrensmangel beheben lässt.

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Bei einer überlangen Verfahrensdauer müssen zunächst die Rechtsbehelfe ergriffen werden, die das jeweilige nationale Recht innerstaatlich zur Abhilfe (Beschleunigung; § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG; Verzögerungsrüge) oder Kompensation vorsieht (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG; zur Effektivität eines Rechtsbehelfs im Zusammenhang mit einer überlangen Verfahrensdauer siehe noch Rn. 163 ff.).[133] Nach Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011[134] gilt dies auch für bereits (auf nationaler Ebene oder auch vor dem EGMR) anhängige Verfahren (siehe zum Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtswegerschöpfung Rn. 46).

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Übergehen – d.h. direkt Beschwerde beim EGMR einlegen – darf der Bf. nur solche Rechtsbehelfe, die für ihn nicht zugänglich oder ineffektiv sind, d.h. keine realistischen Erfolgsaussichten oder selbst im Falle eines Erfolges keine Beseitigung (redress) bzw. Wiedergutmachung des geltend gemachten Konventionsverstoßes versprechen (z.B. weil sie gegenüber den staatlichen Stellen nicht durchsetzbar sind)[135], sich in der bloßen Feststellung des Fehlverhaltens staatlicher Stellen erschöpfen[136], eine unabhängige und unparteiliche Überprüfung des behaupteten Konventionsverstoßes nicht erwarten lassen[137] oder dem Bf. in seiner speziellen Situation (z.B. mangels aufschiebender Wirkung gegen eine drohende hoheitliche Maßnahme) nicht zumutbar sind. Auch Rechtsbehelfe, bei denen im Zeitpunkt, in dem sie einzulegen gewesen wären, nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung keinerlei Aussicht auf Erfolg bestand, müssen nicht erschöpft werden.[138] Die Anforderungen des EGMR sind regelmäßig streng.[139]

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Art. 35 Abs. 1 EMRK verlangt auch nicht, innerstaatliche Rechtsbehelfe zu ergreifen, die dem Betroffenen bei Berücksichtigung seiner Lage nicht zumutbar sind. Ein Rechtsbehelf ist jedenfalls dann unzumutbar, wenn der Betroffene Repressalien zu fürchten hat.[140] Unzumutbar kann (ausnahmsweise und im Einzelfall) auch ein Rechtsmittel sein, wenn bei der Einstellung des Verfahrens automatisch eine Gebühr anfällt.[141]

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Ineffektiv kann ein Rechtsbehelf auch bei unvertretbar langer Verfahrensdauer sein; dem Betroffenen ist ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zuzumuten, die innerstaatliche Entscheidung abzuwarten. Der EGMR fühlt sich nicht gehindert, über die Dauer eines Verfahrens zu entscheiden, das innerstaatlich noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.[142] Grundsätzlich ist aber auch bei lang andauernden Verfahren der Instanzenzug zu durchlaufen.

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Ein Rechtbehelf im Zusammenhang mit einer unangemessenen Verfahrensdauer ist nur dann effektiv i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK, wenn durch ihn entweder das Verfahren beschleunigt oder dem Betroffenen Wiedergutmachung für die bereits eingetretene Verzögerung geleistet werden kann.[143] In Strafverfahren kann die Reduzierung der Strafe oder die Einstellung des Verfahrens ein mögliches Mittel zur Abhilfe bzw. Wiedergutmachung sein.[144]

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Der Bf. muss eine Verzögerung des Strafverfahrens sowohl in der ersten Instanz (spätestens im Schlussvortrag zur Strafzumessung) und im Rahmen aller ihm zur Verfügung stehenden (effektiven) Rechtsbehelfe geltend machen.[145] Berufung, Revision und die Verfassungsbeschwerde stellen wirksame Rechtsbehelfe dar, mit denen einer behaupteten Verfahrensverzögerung abgeholfen werden kann, da mit ihrer Hilfe eine Kompensation im Wege der sog. Vollstreckungslösung oder eine Verfahrenseinstellung bewirkt werden kann.[146]

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Da auch eine Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen zu den Maßnahmen gehört, mit denen eine unangemessene Verzögerung im Strafverfahren kompensiert werden kann, ist der Bf. gehalten, auf die seiner Ansicht nach vorliegende Verfahrensverzögerung hinzuweisen und auf eine Einstellung des Verfahrens (§§ 153, 153a StPO) hinzuwirken – vor und nach Anklageerhebung.[147] Andererseits kann die Zustimmung des Bf. zu einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO dazu führen, dass er auf effektive Rechtsbehelfe (Antrag auf Reduktion der Strafe im Urteil; Rechtsmittel) i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK verzichtet, seine spätere Beschwerde zum EGMR also unzulässig wird.[148]

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Gesuche, die keinen Rechtsanspruch des Betroffenen auf Prüfung in der Sache und keinen Anspruch auf Abhilfe durch die angerufene Stelle auslösen, wie etwa Dienstaufsichtsbeschwerden gegen abgeschlossene Eingriffe,[149] die Anrufung eines Ombudsmanns[150] oder Bürger-/Menschenrechtsbeauftragten, Gnaden- oder Amnestiegesuche oder Petitionen an ein Parlament, Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder, müssen nicht gestellt werden.[151] Nicht zum vorrangigen nationalen Rechtsschutz i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK zählt auch der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens[152] – es sei denn, dass die fehlerhafte Umsetzung eines gegen Deutschland ausgesprochenen Urteils des EGMR geltend gemacht wird. Diesen Rechtsbehelfen bzw. Beschwerdemöglichkeiten fehlt die von Art. 35 Abs. 1 EMRK geforderte Effektivität.

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Bloße Zweifel am Erfolg eines Rechtsbehelfs[153] können dagegen den Verzicht auf seine Einlegung ebenso wenig rechtfertigen wie ein mit der Einlegung verbundenes (angemessenes) Kostenrisiko.[154] Bleibt ein effektiver Rechtsbehelf erfolglos, muss der Bf. keinen weiteren (effektiven) Rechtsbehelf einlegen, dessen Prüfung praktisch identisch mit dem ersten wäre (in which the objective was practically the same).[155]

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Der Verteidiger steht häufig vor der schwierigen Entscheidung, entweder seinem Mandanten einen zeitraubenden und mitunter kostspieligen Weg durch die nationalen Instanzen zuzumuten, um anschließend sicher den Weg nach Straßburg zu finden, oder aber sich mehr oder weniger direkt an den EGMR zu wenden, um dann allerdings Gefahr zu laufen, dort eine unterbliebene Rechtswegerschöpfung vorgehalten zu bekommen. Das mit einer direkten Beschwerde zum EGMR verbundene Risiko sollte nur dann eingegangen werden, wenn der an sich statthafte Rechtsbehelf aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung (consistent case-law) offensichtlich aussichtslos ist.[156]

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In der Beschwerdeschrift sind die auf nationaler Ebene eingelegten Rechtsbehelfe zu benennen und durch Kopien der ergangenen Entscheidungen zu belegen (Rule 47 Abs. 3.1 lit. a). Erhebt der Verfahrensbevollmächtigte[157] des beklagten Vertragsstaates die Einwendung der Nichterschöpfung des nationalen Rechtsschutzes (objection of non-exhaustion), so muss er in diesem Zusammenhang die Existenz und allgemeine Effektivität des angeblich nicht beachteten Rechtsbehelfs darlegen.[158] Kommt der Vertragsstaat diesen Anforderungen nach, so hat grundsätzlich der Bf. plausibel darzulegen, dass er im konkreten Fall diesen Rechtsbehelf entweder erschöpft oder von ihm keinen Gebrauch gemacht hat, da er für ihn unzugänglich, unangemessen oder nicht effektiv war.[159]

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Hinweis

Das vom Gerichtshof zur Verfügung gestellte Beschwerdeformular sieht unter Nr. 63 die Angabe von Rechtsbehelfen vor, die der Beschwerde hätten abhelfen können, vom Bf. aber als nicht effektiv angesehen wurden. Solche „präventiven“ Angaben sollten nur erfolgen, wenn der Vertragsstaat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Einwendung eines nicht erschöpften nationalen Rechtsschutzes erheben wird („keine schlafenden Hunde wecken“).

Andererseits kann das „Verschweigen“ der Nichterschöpfung eines (offensichtlich) effektiven Rechtsbehelfs vom Gerichtshof auch als Missbrauch des Beschwerderechts interpretiert werden (Unzulässigkeit der Beschwerde – Art. 35 Abs. 3 EMRK).

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