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3. Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia)
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Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot bedeutet, dass jemand nur aufgrund eines Gesetzes bestraft werden kann, das zur Zeit der Tat schon in Kraft war, dem Täter also bekannt sein konnte.[370] Das Gebot der nulla poena sine lege praevia ist die älteste und schärfste Gewährleistung des Art. 103 Abs. 2 GG; sie dient nicht nur der Rechtssicherheit, sondern fußt letztlich in der Menschenwürde.[371] Deshalb ist das strafrechtliche Rückwirkungsverbot – anders als das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nach Art. 20 Abs. 3 GG – im Regelfall auch keiner Abwägung zugänglich.[372] Lediglich in Fällen schwersten kriminellen Unrechts, vor allem bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, muss nach der Radbruch’schen Formel der strikte Vertrauensschutz des Rückwirkungsverbots gegenüber dem Gebot materieller Gerechtigkeit zurücktreten;[373] dies legen auch die sog. „Nürnberg-Klauseln“ des Art. 15 Abs. 2 IPbpR und des Art. 7 Abs. 2 EMRK fest.[374] Ob deshalb die „Mauerschützen“ dem Rückwirkungsverbot nicht unterfielen, wie das Bundesverfassungsgericht dies annahm,[375] kann allerdings bezweifelt werden. Denn anders als die Kriegsverbrecher des nationalsozialistischen Regimes haben die „Mauerschützen“, auch wenn sie sich auf einen menschenrechtswidrigen Rechtfertigungsgrund berufen haben, nicht gegen die von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze verstoßen.[376]
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Art. 103 Abs. 2 GG verbietet dem Gesetzgeber sowohl die rückwirkende Strafbegründung als auch die rückwirkende Strafverschärfung.[377] Der Gesetzgeber darf also in der Vergangenheit liegendes Verhalten nicht nachträglich neu mit Strafe bedrohen oder eine bestehende Strafandrohung verschärfen, auch nicht durch Entfallenlassen von positivierten Rechtfertigungsgründen.[378] Eine „Vorwirkung“ von Strafgesetzen, die noch nicht in Kraft getreten sind, mögen sie auch schon verabschiedet sein, lässt Art. 103 Abs. 2 GG ebenfalls nicht zu.[379] Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich aber nur auf die materiell-rechtliche Vorschriften des Strafrechts einschließlich der objektiven Strafbarkeitsbedingungen.[380] Formelle Vorschriften über die Verfolgbarkeit oder Vollstreckung werden nicht erfasst; eine Verlängerung oder Aufhebung von Verjährungsfristen ist daher mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.[381] Der Bürger kann auch nicht darauf vertrauen, dass das Prozessrecht oder das Gerichtsverfassungsrecht nicht geändert wird, selbst wenn die Änderung bereits anhängige Verfahren betrifft.[382]
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Auch dem Richter ist es untersagt, eine Strafnorm oder eine Vorschrift des Ordnungswidrigkeitenrechts rückwirkend anzuwenden.[383] Neben der Rechtssicherheit und dem Schutz der Menschenwürde dient das Rückwirkungsverbot insoweit der materiellen Gerechtigkeit der Einzelentscheidung, verhindert es doch, dass ein Urteil aus emotionalen Gründen gefällt wird.[384] Zulässig ist dagegen die Anwendung milderen Rechts als des zur Tatzeit geltenden Rechts,[385] auch wenn das Prinzip der Meistbegünstigung (lex mitior) in § 2 Abs. 3 StGB und in § 4 Abs. 3 OWiG von Verfassungs wegen nicht erforderlich ist.[386] Ebenfalls erlaubt ist die Anwendung eines Gesetzes, das das zum Tatzeitpunkt geltende Strafgesetz ersetzt, wenn altes und neues Gesetz den Unrechtsgehalt der Tat gleich bewerten.[387] Bei dem sog. „Normentausch“ dürfen sogar unterschiedliche Normsetzer in Erscheinung treten, etwa wenn ein Bundesgesetz durch eine EU-Verordnung abgelöst wird.[388]
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Keine Einigkeit besteht in Bezug auf die Frage, ob das Rückwirkungsverbot auf Änderungen der (gefestigten) Rechtsprechung im Strafrecht zu erstrecken ist. Nach einer Ansicht sollen Rechtsprechungsänderungen nicht unter das Rückwirkungsverbot fallen.[389] Sinnvoller erscheint jedoch eine Differenzierung. Geht es lediglich um eine andere strafrechtliche Bewertung aufgrund einer Veränderung der empirisch feststellbaren Tatsachenbasis, greift das Rückwirkungsverbot nicht.[390] Daher konnte die Promille-Grenze, die zu absoluten Fahruntüchtigkeit i.S.d. §§ 315c Abs. 1 Nr. 1a, 316 StGB führt, zwischen Tatzeit und Zeitpunkt der Verurteilung herabgesetzt werden, ohne gegen Art. 103 Abs. 2 GG zu verstoßen.[391] Anders müssen hingegen Rechtsprechungsänderungen beurteilt werden, die ohne Veränderung der Tatsachenbasis das strafrechtliche Unwerturteil modifizieren. Eine solche Vorgehensweise widerspricht dem Gehalt von Art. 103 Abs. 2 GG, da in diesen Fällen die strafrechtliche Reaktion erst aufgrund der „gesetzesergänzenden“ Rechtsprechung vorhersehbar und berechenbar würde.[392]
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In seiner frühen Judikatur hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst offengelassen, ob Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) vom Rückwirkungsverbot erfasst werden.[393] § 2 Abs. 6 StGB nimmt diese Maßnahmen vom Schutz des Art. 103 Abs. 2 GG aus. Diese einfachgesetzliche Anordnung ist jedoch lediglich dann mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, wenn die Maßregeln bloß präventiven Charakter haben und nicht zugleich auf dem Repressions- und Sühnegedanken beruhen.[394] Im Jahre 2004 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Sicherungsverwahrung nach §§ 66 ff. StGB a.F. allein präventiver Natur sei und deshalb der Wegfall der ursprünglich vorgesehenen Befristung (§ 67d Abs. 3 StGB a.F.) auch für diejenigen Verurteilten gelten solle, gegen die zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung die Maßregel vollzogen wurde.[395] Mit ähnlicher Begründung erachtete das Bundesverfassungsgericht die mit § 66 Abs. 3 StGB (§ 66b Abs. 1 S. 2 StGB a.F.) einhergehende Erweiterung der Möglichkeiten zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (sog. „Altfallregelung“) als verfassungskonform.[396]
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Auch in jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht am präventiven Charakter der Sicherungsverwahrung festgehalten.[397] Zwar spreche die Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Sicherungsverwahrung als Strafe i.S.d. Art. 7 Abs. 1 EMRK zu qualifizieren sei,[398] dafür, das Abstandsgebot zwischen Sicherungsverwahrung und Strafhaft scharf zu konturieren. Eine „schematische Parallelisierung“ der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 EMRK und Art. 103 Abs. 2 GG sei aber nicht geboten.[399] Strafbarkeit i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG setze voraus, dass das auferlegte materielle Übel mit der Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens verknüpft sei und von seiner Zielrichtung her (zumindest auch) dem Schuldausgleich diene. Der Zweck der Sicherungsverwahrung liege jedoch allein in der zukünftigen Sicherung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder vor einzelnen Tätern, die aufgrund ihres bisherigen Verhaltens als hochgefährlich eingeschätzt würden. Diese Zweispurigkeit des strafrechtlichen Sanktionensystems entspreche in besonderer Weise dem rechtsstaatlich-liberalen Verständnis der deutschen Strafrechtsordnung.[400] Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht, obgleich es die Sicherungsverwahrung den strengen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht unterstellt, die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wegen Verletzung des Vertrauensgrundsatzes für mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar erklärt.[401] Auf diese Weise hat es der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angemahnten Differenzierung im Ergebnis Rechnung getragen.[402]
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Mittlerweile hat der Gesetzgeber das Recht der Sicherungsverwahrung neu geregelt.[403] Eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nur noch in eng begrenzten Konstellationen möglich: bei „Altfällen“ sowie bei der Erledigungserklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 6 StGB.[404] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die gesetzliche Neufassung für konventionskonform. Zwar bleibt er bei seiner Ansicht, dass das Institut der Sicherungsverwahrung grundsätzlich als „Strafe“ i.S.d. Art. 7 EMRK anzusehen sei; allerdings könne im Einzelfall der präventive Charakter, insbesondere die medizinisch-therapeutische Betreuung des Täters, ein Abrücken von dieser Einordnung bewirken.[405] Auch die Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz,[406] die inzwischen als dritter Weg neben Strafvollzug und Sicherungsverfahrung besteht, unterfällt wegen ihrer präventiven Ausrichtung dem Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG nicht und ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungskonformer Auslegung auch im Übrigen verfassungsgemäß.[407]