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IV. Nulla poena sine culpa

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Der Grundsatz nulla poena sine culpa (Schuldprinzip) hat den Rang eines aus dem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfassungsrechtssatzes,[547] der nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sogar zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität zählt.[548] Nach dem Schuldprinzip müssen zum einen gesetzlicher Tatbestand und Strafrahmen, gemessen an der materiellen Gerechtigkeit, einander entsprechen.[549] Zum anderen hat die im Einzelfall verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters zu stehen.[550] Damit hat der Schuldgrundsatz als Mittel zur Begrenzung von Strafe vor allem materiell-rechtliche Bedeutung und weist Überschneidungen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.[551] Aus ihm folgen jedoch ebenfalls wichtige verfahrensrechtliche Anforderungen an die Schuldfeststellung, insbesondere das Gebot der Wahrheitserforschung.[552]

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Die Anknüpfung an die persönliche Schuld folgt als Konsequenz aus der freien selbstbestimmten Willensentscheidung des Täters als einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.[553] Die Vorstellung eines prinzipiell mit freiem Willen und eigenverantwortlich handelnden Menschen liegt der Verfassung, namentlich dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG, zugrunde und findet auch in der zivilrechtlichen Anerkennung der Privatautonomie ihren Ausdruck.[554] Dementsprechend hat auch das Strafrecht im Regelfall von der Fähigkeit des Einzelnen auszugehen, sich frei für Recht oder Unrecht entscheiden zu können.[555] Entscheidet sich der Einzelne bewusst oder aus Nachlässigkeit für das Unrecht, lädt er strafrechtliche Schuld auf sich.[556] Philosophische und neurobiologische Erkenntnisse zur Willens(un)freiheit des Individuums sind für die normative Setzung des strafrechtlichen Schuldprinzips unerheblich, da jede Rechtsordnung auf Zurechnungsregeln angewiesen ist.[557] Nur in Ausnahmefällen kann gegen einen Schuldunfähigen (§§ 19, 20 StGB) oder einen schuldlos Handelnden (§ 35 StGB) ein Schuldvorwurf nicht erhoben und darf daher keine Strafe verhängt werden.

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Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem Schuldprinzip zwingend, dass die Schuld an eine konkrete Tat anknüpfen muss; die Schuld des Täters ist also „Tatschuld“.[558] Der Schuldgrundsatz steht damit der Lehre vom normativen Tätertyp entgegen, die vor allem im nationalsozialistischen Rechtsdenken verhaftet war[559] und in Einzelfällen im geltenden StGB weiterhin aufscheint.[560] Zu Recht hat deshalb eine Expertengruppe vorgeschlagen, das in §§ 211, 212 StGB enthaltene Relikt der normativen Tätertypen („Mörder“, „Totschläger“) zu reformieren.[561] Das verfassungsrechtliche Bedenken an der Lehre vom normativen Tätertyp liegt nämlich vor allem darin, dass sie auf die „Volksanschauung“, wer typischerweise als Unrechtstäter in Betracht kommt, zurückgreift[562] und wegen dieser Unbestimmtheit im Einzelfall zu einer Strafbarkeitserweiterung führen kann. Gewisse Überschneidungen dieser Lehre gibt es mit dem – eindeutig verfassungswidrigen – Konzept eines sog. „Feindstrafrechts“ und dem ebenfalls nicht unproblematischen Ansatz eines „Gesinnungsstrafrechts“.[563] Auch das gegenwärtig diskutierte Unternehmensstrafrecht, wonach Straftaten unter Umständen auch Verbänden und juristischen Personen des Privatrechts zugerechnet werden, reibt sich mit den hergebrachten Anforderungen des Schuldgrundsatzes.[564]

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