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V. Ne bis in idem crimen judicetur (Art. 103 Abs. 3 GG)

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Das Verbot der mehrfachen Bestrafung gemäß Art. 103 Abs. 3 GG enthält ein grundrechtsgleiches Recht mit abwehrrechtlichem Gehalt[408] und gewährt darüber hinaus als verfahrensbezogene Gewährleistung jedermann ein Prozessgrundrecht.[409] Es stellt zudem eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar; vor allem dient es der Rechtssicherheit der Person.[410] Das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit[411] löst Art. 103 Abs. 3 GG zugunsten der ersteren auf.[412] Der Einzelne wird davor bewahrt, sich nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung erneut verantworten zu müssen.[413]

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Schon aus seiner historischen Genese folgt, dass Art. 103 Abs. 3 GG ein normgeprägtes Grundrecht ist, dessen Ausfüllung wesentlich vom strafverfahrensrechtlichen Bezugssystem abhängt.[414] Dennoch weist das verfassungsrechtliche Mehrfachbestrafungsverbot einen eigenständigen Garantiegehalt auf.[415] Dies wird besonders deutlich an dem Begriff „derselben Tat“. Der verfassungsrechtliche Tatbegriff in Art. 103 Abs. 3 GG hat gegenüber dem straf(prozess)rechtlichen Tatbegriff autonome Bedeutung und meint einen nach natürlicher Auffassung zu beurteilenden einheitlichen geschichtlichen Lebensvorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.[416] Deshalb kann unter Umständen dieselbe Tat i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG nicht gegeben sein, obwohl nach strafrechtlichen Grundsätzen Tateinheit gemäß § 52 StGB anzunehmen wäre.[417] Umgekehrt kann dieselbe Tat i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG vorliegen, wenn die Entscheidung des Fachgerichts, die Tatbestandsverwirklichungen stünden zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 StGB), verfassungsrechtlich unangreifbar ist.[418]

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Auch der Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“, aufgrund derer es zu keiner Mehrfachbestrafung kommen darf, ist unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zu verstehen. Nach den Motiven des Parlamentarischen Rates sollen „allgemeine Strafgesetze“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG zwar nicht als Gegensatz zum Nebenstrafrecht zu verstehen sein; nicht erfasst werden sollen aber das „Dienststrafrecht, das Ordnungsstrafrecht und das Polizeistrafrecht“.[419] Der Begriff der allgemeinen Strafgesetze meint also Kriminalstrafgesetze.[420] Demnach schließt Art. 103 Abs. 3 GG das Berufsstrafrecht, das Dienststrafverfahren, das Disziplinarrecht und das Ordnungs- und Polizeirecht aus.[421] Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird auch das Ordnungswidrigkeitenrecht von Art. 103 Abs. 3 GG nicht erfasst.[422] Da allerdings viele Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts bei Entstehung des Grundgesetzes Strafgesetze waren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Gesetzgeber zu einer Überprüfung von Kriminalstrafen zwingt,[423] ist der Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“ analog auch auf Ordnungswidrigkeiten anzuwenden.[424] Für diese Auslegung spricht auch, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung wie Führungsaufsicht[425] oder Sicherungsverwahrung[426] vom Bundesverfassungsgericht zwar ebenfalls von der Garantie ne bis in idem ausgenommen sind, aber nunmehr am Vertrauensschutzgebot des Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gemessen werden.[427]

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Art. 103 Abs. 3 GG verbietet nach seinem Wortlaut nur die mehrfache Bestrafung. Sperrwirkung entfaltet jedoch nicht nur das rechtskräftig verurteilende, sondern auch das freisprechende Urteil.[428] Bei gerichtlichen Entscheidungen zur Verfahrenseinstellung kommt es darauf an, inwieweit diese mit Rechtskraftwirkung einen Vorgang vollständig erfassen und abschließend entscheiden.[429] Lediglich ein rechtskräftiger Verfahrensabschluss führt zu einem umfassenden Verbrauch der Strafklage, der dann bereits der Einleitung eines erneuten Verfahrens entgegensteht.[430] Art. 103 Abs. 3 GG bildet ein strafprozessuales Verfahrenshindernis,[431] das bloß im Ausnahmefall durchbrochen werden darf. So ist die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten nur gerechtfertigt, wenn durch die Aufrechterhaltung der Rechtskraft die materielle Gerechtigkeit unerträglich beeinträchtigt würde.[432] Dennoch dürften die Vorschriften zur Wiederaufnahme des Verfahrens für Strafbefehle, insbesondere § 373a StPO, verfassungsgemäß sein, auch wenn sie die Rechtskraft hinsichtlich nachträglich eingetretener Tatbestände einschränken.[433]

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Prinzipiell gilt der Grundsatz ne bis in idem nur für das Verhältnis zwischen deutschen Gerichten, nicht aber für das Verhältnis zwischen deutschen und ausländischen Gerichten.[434] Es gibt keine allgemeine Regel des Völkerrechts über die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zwischen den Staaten.[435] Auch auf regionaler völkerrechtlicher Ebene gilt das Verbot der Doppelbestrafung grundsätzlich nur jeweils innerhalb desselben Staates.[436] Anderes gilt jedoch für die Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.[437] So ist etwa ein jurisdiktionsübergreifendes Mehrfachverfolgungsverbot durch Art. 54 f. des Schengener Durchführungsübereinkommens garantiert.[438] Auf sekundärrechtlicher Ebene normiert der Europäische Haftbefehl[439] das unionsweit geltende Verbot der Mehrfachbestrafung für schwerwiegende Delikte.[440] Art. 50 GRCh enthält folgerichtig das Zwischenstaatlichkeitserfordernis für die Anwendung des Prinzip des ne bis in idem nicht.[441] Die Vorschrift hindert einen EU-Mitgliedstaat allerdings nicht daran, zur Ahndung derselben Tat eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat.[442] Keine ausländischen Gerichte sind die Gerichte der Europäischen Union. Diese üben mit der eigenständigen Rechtsprechungsgewalt der Europäischen Union mittelbar auch deutsche – da gemäß Art. 23 Abs. 1 GG übertragene – Hoheitsgewalt aus; abschließende Entscheidungen der Unionsgerichtsbarkeit lösen folglich Sperrwirkung i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG aus.[443] Schließlich enthält das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs[444] in Art. 20 eine jurisdiktionsübergreifende ne bis in idem-Gewährleistung. Danach schließt eine Aburteilung durch den Strafgerichtshof eine erneute nationale Strafverfolgung wegen derselben Tat aus (Art. 20 Abs. 2); umgekehrt kann der Strafgerichtshof ein Verfahren gegen einen Angeklagten, der bereits auf nationaler Ebene abgeurteilt worden ist, nur unter bestimmten Voraussetzungen durchführen (vgl. Art. 20 Abs. 3). Im Kern handelt es sich hierbei jedoch lediglich um internationale Sicherungen des internen Mehrfachbestrafungsverbots.[445]

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