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VI. Nemo tenetur se ipsum accusare

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Der althergebrachte Grundsatz der Aussagefreiheit des Beschuldigten und des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung ist zwar in Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR verankert, findet aber weder im Grundgesetz noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention explizite Erwähnung.[571] Dennoch wird der nemo tenetur-Grundsatz als Verfassungsprinzip qualifiziert, das zum einen in engem Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK und dem Kernbereich eines fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK steht, zum anderen im Rechtsstaatsprinzip und in der Menschenwürdegarantie, wenigstens aber im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelt.[572] Geschützt ist die Freiheit von Zwang, sich durch eigene Aussagen einer Straftat zu bezichtigen oder zu der eigenen Überführung aktiv beizutragen.[573] Der tiefere Grund der verfassungsrechtlichen Garantie der Aussagefreiheit des Beschuldigten ist freilich darin zu sehen, dass jedweder Folter oder unmenschlichen Behandlung zur Gewinnung von selbstbelastenden Aussagen entgegengewirkt werden soll. Deshalb geht der Schutz des nemo tenetur-Prinzips über die bloße Aussagefreiheit des Beschuldigten hinaus und ergreift personell auch Aussageverweigerungsrechte von Zeugen. Während dem Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 52–54 StPO der Gedanke zugrunde liegt, nahen Verwandten und bestimmten Vertrauenspersonen des Beschuldigten den Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und anderen grundgesetzlich verbrieften Rechten, etwa dem Recht auf Intim- oder Privatsphäre (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG), zu ersparen,[574] zielt das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO allein auf die Wahrung des nemo tenetur-Prinzips.

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Inhaltlich ist der nemo tenetur-Grundsatz tendenziell weit zu verstehen. So darf das Schweigen des Beschuldigten nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat.[575] Anderes gilt allerdings in Fällen des Teilschweigens; insoweit dürfen im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilige Schlüsse gezogen werden, da der Kern der Menschenwürde, aus der der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit folgt, nicht berührt ist.[576] Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das Schweigerecht des Beschuldigten nicht als absolut geschützt an.[577] Er hält aber – ebenso wie inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht – den nemo tenetur-Grundsatz dann für verletzt, wenn ein Beschuldigter, obwohl er sich auf sein Schweigerecht berufen hat, unbemerkt einer vernehmungsähnlichen Befragung durch einen verdeckten Ermittler unterzogen wird.[578] Zu weit gehen würde es jedoch, den nemo tenetur-Grundsatz schlechthin auf einen Schutz gegen Täuschung oder List zu erstrecken; erst recht schützt das Verbot nicht gegen heimliche Ermittlungsmaßnahmen.[579] Insoweit ist auch der Einsatz von Lockspitzeln („agents provocateurs“) als Ermittlungsmaßnahme zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität grundsätzlich statthaft.[580] Unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[581] judiziert der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs jedoch nunmehr, dass aktive Tatverleitungen durch physischen oder psychischen Druck zu einem Verfahrenshindernis[582] und nicht mehr lediglich zur Strafmaßreduzierung führen können.[583]

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