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6. Kapitel

Mittwoch, 22. Oktober 2008, München

Rudolphs Taxi wartete in der Trogerstraße vor dem Palace Hotel, das schon seit längerem seine Bleibe war. Seine Eigentumswohnung in Grünwald hatte er aus finanziellen Gründen verkauft. Ihm gehörte noch eine große Eigentumswohnung in Berlin Charlottenburg, allerdings mit Hypotheken belastet, welche er nur selten nutzte. Sie war mehr oder weniger sein Refugium, wenn er über neuen Ideen brütete.

Sein Ziel war die Kardinal-Faulhaber-Straße. Dort war nicht nur das erzbischöfliche Palais Holnstein des Erzbistums München Freising angesiedelt, sondern auch über eine großflächige Etage in einem alten ehrwürdigen Bürogebäude der Immobilienmakler Weidach. Er wies den Taxifahrer an, die Kapellenstraße anzusteuern.

Der Taxifahrer fluchte: „Schwere hinzukomme. Nur Einbahnstraße und Fußgängerzone.“

Rudolph war das gleichgültig. Er wollte Weidachs größten Coup sehen.

Hier hatte das erzbischöfliche Bistum durch seine Maklertätigkeit für sechsundachtzig Millionen im Jahr 2006 eine Immobilie erworben, um ihr Ordinariat zusammenzufassen. Hier fanden vierhundert kirchliche Mitarbeiter Platz. Von dort schlenderte er die Neuhauser Straße entlang bis fast zum Marienplatz. Er bog vorher links in eine schmale Gasse, erreichte die mächtige Frauenkirche mit ihren beiden Zwiebeltürmen, bog wieder in eine schmale Gasse ein, um schließlich die Kardinal-Faulhaber-Straße zu erreichen. Den Fußweg nutzte er, um sich zu sammeln.

Er suchte nach der richtigen Hausnummer, fand sie und entdeckte nach längerem Suchen ein kleines Messingschild WEIDACH IMMOBILIEN. Er klingelte und sofort summte es, so dass er die schwere Holztür aufstoßen konnte. Zwei Stockwerke auf einer schiefen Holztreppe stieg er nach oben und bewunderte dabei die bunten Keramikplatten, die ihn in Kopfhöhe begleiteten. Vor einer weit offenstehenden Tür erwartete ihn die zierliche Emma Weidach persönlich. Sie wirkte unscheinbar, aber gleichzeitig neugierig. Sie trug eine cremefarbene hochgeschlossene Bluse und einen dunkelblauen kniebedeckenden Faltenrock, an dessen Ende zwei schmale langweilig gerade Unterschenkel herausschauten, die in fleischfarbene Nylonstrümpfe gehüllt waren.

Keine Trauerkleidung, stellte er fest. Als er sie mit der Webcam ausspioniert hatte, lief sie immer mit schwarzer Kleidung herum. Noch gestern. Er nahm es als gutes Zeichen, dass sie vermutlich zum ersten Mal für diesen Anlass nach dem Tod des geliebten Vaters auf Trauerkleidung verzichtete. Sie wollte bestimmt ihm gegenüber nicht schwarz abweisend auftreten.

„Sie haben es gefunden. Wie schön. Und so pünktlich. Kommen Sie doch herein.“

Sie begrüßte ihn mit einem schwachen Händedruck, aber immerhin mit Augenkontakt, der freundlich ausfiel. Sie führte ihn durch einen langen breiten Flur bis das kleine, aber fein eingerichtete Besprechungszimmer erreicht war. Ausschließlich Gründerzeitmöbel hatten hier ihren Platz gefunden. Auf dem schweren Besprechungstisch standen eine Kristallkaraffe Wasser und zwei Gläser.

„Wenn Sie Kaffee oder Tee wollen, müssen Sie es nur sagen.“

Sie nahmen über Eck Platz. Rudolph richtete es so ein. Das schien ihm privater als die frontale Sitzordnung.

„Nein, danke. Alles bestens.“ Er lächelte sie mit einem milden Gesichtsausdruck an, der offen und bescheiden wirken sollte. Das hatte er tapfer vor dem großen Hotelspiegel geübt. Auf den ersten Eindruck kam es an. Sie lächelte zurück und eine leichte Röte trat in ihr Gesicht.

Aufmerksam folgte sie seinen Ausführungen: Er schilderte seine aufregende Zeit bei seiner Investmentbank, von rasant steigender Geldgier und brutaler Abstrafung durch die Kapitalmärkte. Dem Schock wich die Einsicht, dass er seine christlichen Koordinaten aufgegeben hatte. Hier machte er eine Pause und schaute seine mittlerweile gebannt lauschende Gastgeberin an und seufzte, um seinem schlechten Gewissen Ausdruck zu geben.

„Dies war für mich umso bedauerlicher, als mir der liebe Gott die großartigen Gaben eines Mathematikers und Physikers mitgegeben hat. Ich war Jahrgangsbester beim Diplomabschluss in diesen Studienfächern. Jetzt will ich diese Begabungen zur Verbesserung von Computerprogrammen einsetzen, um den Menschen das Leben leichter zu machen.“

Er hoffte, dass er nicht zu dick aufgetragen hatte. Seine Hoffnung trog ihn nicht. Er sah ein Strahlen auf dem Gesicht der jungen Frau. Jetzt betete er geradezu, dass Emma Weidach bereit war, den Wink des Schicksals oder noch besser die göttliche Vorsehung anzunehmen. Er wusste durch seine Hackertätigkeit, dass sie schon aufwendig eine Heiratsanzeige vorbereitet hatte. Sie wollte ihre Zukunft mit einem erfahrenen warmherzigen Mann teilen, der ihr Stütze und Halt versprach. Rudolph wünschte sich, dass sie sich entschloss, ein wenig zuzuwarten mit der Aufgabe der schon fertig formulierten Heiratsanzeige. Er wollte keine störende Konkurrenz.

Sie bedankte sich für die großzügige Spende an ihre Stiftung. Er stellte weitere Gelder in Aussicht, weil ihm der Stiftungszweck so wichtig wäre.

„Wollen Sie mit Ihrer Erfahrung nicht dem Stiftungsrat beitreten? Sie wären bestimmt eine Bereicherung.“ Sie vermittelte einen fast energischen Eindruck als sie ihre Bitte vortrug. Sein Herz schlug schneller, so kannte er sich noch gar nicht.

„Glauben Sie wirklich, dass ich für diese verantwortungsvolle Aufgabe geeignet wäre?“

„Mein Gefühl lässt mir keine Zweifel.“

„Ich probiere es mit meinen bescheidenen Kenntnissen und verspreche Ihnen großes persönliches Engagement.“

Unvermittelt fing Emma Weidach an, über sich zu sprechen. Wie schwer ihr der Tod des Vaters zusetzte. Welch gutes Verhältnis sie gehabt hatten, obwohl er fünfzig Jahre älter als sie gewesen war. Sie war die Tochter seiner zweiten Ehefrau. Die erste war jung an einer schweren Krankheit gestorben. Ihr Vater hatte diesen Schicksalsschlag nie richtig überwunden.

Er zeigte Empathie so gut er konnte. Um das triste Thema zu beenden, schaute er sich um, ließ seinen Blick über Gründermöbel und Kristallkaraffen schweifen. Das war ihm alles zu verspielt und stieß ihn ab. Da fiel ihm ein, dass er im Flur eine Serie von Reiterbildern wahrgenommen hatte.

„Mir sind die vielen Reiterbilder aufgefallen, die die Wände des Flurs zieren. Sie interessieren sich für Pferde?“

Vor seinem inneren Auge zog die blutige Stierkampfszene vorbei, als der Bulle das Pferd eines Picadores aufschlitzen konnte und das Tier in heftigen Zuckungen verstarb.

„Es handelt sich um alte Ölgemälde. Nicht von großer künstlerischer Qualität, aber ich liebe Pferde. Und in Öl lassen sich ihre Wärme und Würde am besten wiedergeben.“ Zum ersten Mal strahlte Emma Weidach ihn an.

Sie erzählte von ihrer Leidenschaft zu Pferden. Sie ritt gerne aus.

„Pferde sind Fluchttiere und Herdentiere. Wenn man sich mit ihrer Persönlichkeit beschäftigt, so schätzt man ihre Zuneigung und Wärme.“

Schließlich erfuhr er, dass sie sich auf Pferde spezialisiert hatte, die unter einer traumatischen Erfahrung litten.

Sie verstand sich als Pferdetherapeutin.

Flucht und Herde waren seine Sache nicht, dachte er abschätzig, traumatische Erfahrungen und Psychotherapie schon gleich gar nicht.

Er schaute auf den Parkettboden und flüsterte: „Wie mitfühlend.“ Er räusperte sich und sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: „Ich muss Sie leider verlassen. Der nächste Termin ruft.“

Ein verständnisvolles Nicken von Emma Weidach begleitete ihr schnelles Aufstehen. Sie wollte offensichtlich dem Gast keinen Kummer bereiten, indem sie ihn unnötig aufhielt. Sie verabschiedeten sich.

„Sie lassen mir den Termin der nächsten Sitzung des Stiftungsrates zukommen?“

Sie nickte eifrig und blieb im Hausflur stehen bis er die Ausgangstür erreicht hatte.

Er war sehr mit sich zufrieden und steuerte den Bayerischen Hof an in der Hoffnung, einen Platz im Restaurant Atelier zu finden, das aus seiner Sicht auf dem besten Wege war sich die Sterne zu erobern, nach denen auch er griff.

Eine Woche später nahm er an der ersten Sitzung des Stiftungsrates teil, die in den Räumlichkeiten der Firma WEIDACH IMMOBILIEN stattfand. Er wurde durchaus freundlich von drei alten Herren empfangen, die in der Stadt etwas zu sagen hatten: ein ehemaliger bayerischer Minister, ein bekannter Bauunternehmer und der Kardinal.

Emma Weidach, ganz in Schwarz gekleidet, stellte ihn und seine Beweggründe vor:

„Vom Saulus zum Paulus. Wie keine andere Geschichte der katholischen Kirche steht diese für Schuld und Sühne, Gnade und Erlösung, Bekehrung und Zuversicht.“

Der Kardinal lächelte milde und tätschelte den Neuankömmling wohlwollend an der Schulter. Rudolph wurde übel. Er lächelte den Würdenträger mit leeren Augen an. Dann wandte er sich seiner Gastgeberin zu und erkannte, dass sich diese schwere Prüfung doch lohnte. Sie strahlte überglücklich. Er wurde neben Emma Weidach zum zweiten Vorstand der Stiftung gewählt, als Nachfolger ihres verstorbenen Vaters. Sie bat ihn nach der Sitzung zur Feier dieses Ereignisses um einen kurzen Besuch des Domes zu unserer Lieben Frau, um angemessen Einkehr zu halten. Rudolph brauchte eine Weile bis er verstand, dass sie die Frauenkirche meinte.

Als beide den Dom betraten, flüsterte sie: „Nicht auf den Teufelstritt treten, dass bringt Unglück.“

Er schaute nach unten und sah den Abdruck eines Fußes mit einem Sporn an der Ferse. Das könnte meine Schuhgröße sein, dachte er und umging den Abdruck mit einem Schritt zur Seite.

Er verbrachte viel Zeit mit regelmäßigen Besuchen eucharistischer Gottesdienste. Emma war eine pflichtbewusste Kirchgängerin. Rudolph begann bereits daran zu zweifeln, dass Nietzsche mit seinem Ausruf „Gott ist tot“ recht hatte. Auch begleitete er seine Freundin auf ein Gestüt in der Nähe von Bernbeuren, dort betreute sie zwei Pferde. Als sie ihn zu Reitstunden überreden wollte, verwies er auf einen kaum ausgeheilten Bandscheibenschaden.

Er lernte die weitläufige Familie kennen und spürte deren Zurückhaltung ihm gegenüber. Manche begegneten ihm sogar offen mit Misstrauen.

Fünf Monate später war es ihm ein Leichtes Emma davon zu überzeugen, dass seinem und ihrem Glück nur noch der göttliche Segen fehlte. Bald darauf war die standesamtliche und kirchliche Trauung angesetzt. Letztere wurde, in der Herz Jesu Kirche in München Neuhausen vollzogen. Der quaderförmige Bau des Gotteshauses war an der Vorderseite mit zwei mächtigen die ganze Front abdeckende Flügeltüren versehen, die aufgeschoben wie das Maul eines Molochs wirkten, in dem die einschreitenden Hochzeitsgäste zu den Klängen von Mendelssohn-Bartholdys-Hochzeitmarsch für immer verschwanden. So erschien es zumindest dem Bräutigam. Aber seine Selbsteinschätzung sagte ihm, dass er sich aus diesem Schlund befreien würde.

Zweimal Morden lohnt sich

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