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Teil 1

1. Kapitel

Montag, 20. August 2007, Madrid

Es war neunzehn Uhr, und Madrid lag immer noch unter einer Hitzeglocke. Dr. Rudolf Rudolph hatte einen langen anstrengenden Arbeitstag hinter sich und wollte jetzt nur noch entspannen. Heute würde kein Abendessen mit seinem Kunden stattfinden. Der Familienunternehmer hatte seine Einladung mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt. Kein gutes Zeichen. Schon seit ein paar Wochen spürte er, dass die Zeiten härter werden wollten. Mit diesen düsteren Gedanken schloss er seine Hoteltür auf und betrat seine großzügige luxuriöse Suite, die sein Arbeitgeber teuer bezahlte. Nicht einmal den großartigen Ausblick auf die wunderschöne Parkanlage konnte er genießen.

Stolz blickte er auf die vergangenen fünf Jahre als erfolgreicher Investmentbanker zurück. Er hatte seinen Arbeitgeber und auch sich selbst mit margenstarken selbst entwickelten Finanzprodukten reich gemacht. Ein breiter mit viel Geld ausgestatteter Investorenkreis vertraute seinen Produkten und seinen Empfehlungen blind, weil er bis jetzt noch keine kostspielige Niete angeboten hatte. So sollte es nicht bleiben.

Er stellte den Aktenkoffer im Kleiderschrank ab, entledigte sich hastig seiner eleganten Berufskleidung, nicht ohne sie sorgfältig aufzuhängen und ließ sich eine Viertelstunde von allen Varianten der aufwendigen Dusche entspannen. Abwechselnd hämmerten heftige Wasserstrahlen auf seine Haut und Muskulatur und duftende Wasserwolken aus Regen, Nebel und Licht umschmeichelten seinen Körper. Als er die halbrunde Kabine verließ, betrachtete er sich prüfend im Spiegel. Wie immer haderte er mit seiner H-Typ-Figur. Seine Schultern und Hüften waren nahezu gleich breit, was ihm langweilig erschien. Er hätte den athletischen Y-Typ bevorzugt, als genetische Bestimmung.

Aus dem Spiegel schaute ihn ein Gesicht an, das durch eine breite Stirn im Vergleich zum Wangenbereich und zur Kinnpartie auffiel. Hier habe ich meine Y-Form, dachte er. Eine große, breite Nase und ein breiter Mund fügten sich auffällig in diese Geometrie. Augen und Mund beherrschten in genialem Zusammenspiel die ganze Klaviatur von Häme, Ironie bis Verwunderung, aber nie Wärme oder Bewunderung.

Nein, nicht wie der amerikanische Schauspieler mit dem teuflischen Blick eher wie der österreichische Schauspieler, der so deutsch wirkt, dachte er.

Die kunstvolle Fähigkeit seine Mimik auf diese Gefühlswelten zu beschränken, erfüllte ihn mit Stolz. Eine Eigenschaft, die ihm bei wichtigen Geschäftsabschlüssen so manchen lukrativen Dienst erwiesen hatte.

Das braune Haupthaar trug er mittellang bis kurz immer darauf achtend, dass die mächtige Stirn nicht verdeckt wurde. Er trocknete sich ab, gönnte sich eine zweite Nassrasur und nahm reichlich von dem dezenten Rasierwasser. Als er das Bad verließ, hatte er seine innere Spannung fast wiedergefunden.

Eine halbe Stunde später verließ er in Smart-Casual-Kleidung die Hotellobby. Sein Ziel war die Umgebung des Plaza Major. Gut zwanzig Minuten Fußweg vom Ritz. Kein schöner Spaziergang durch die lauten stark befahrenen Straßen. Das erstklassige Hotel lag günstig zu verschiedenen Parkanlagen der Hauptstadt wie dem weitläufigen Retiro Park. Aber Ruhe und Natur entspannten ihn nicht. Im Gegenteil, sie steigerten seine Nervosität. Er überquerte den zentralen Platz, beobachtete interessiert die Außenbereiche der Restaurants und Cafés, die bereits von Touristen besetzt waren und steuerte sein eigentliches Ziel an, den Mercado San Miquel, der nur dreihundert Meter entfernt lag.

Diese Markthalle ähnelte einer Orangerie, da das Gerippe aus Eisenträgern bestand, die mit großflächigen Glasscheiben an den Außenwänden verbunden waren. Rudolph wusste, dass sie 1916 erbaut wurde und unter Denkmalschutz stand. Er wusste aber auch, welcher Eingang zu wählen war, um auf direktem Weg den Stand mit den Keulen der schwarzen Schweine zu erreichen. Sie hingen dicht nebeneinander, alle mit einem kleinen unten verschlossenen Trichter versehen, der den letzten Rest Feuchtigkeit eines langen Lufttrocknungsprozesses aufnahm. Er bestellte fünfzig Gramm und beobachtete zufrieden, wie der Verkäufer mit einem langen Messer die dünnen Scheiben aus der Bellota Keule schnitt, die in einem Schinkenhalter fixiert war. Er beglich den horrenden Preis, nahm das kleine Tablett aus Pappe entgegen und gab sich sofort der unvergleichlichen Geschmacksmischung aus Salz, Fett und Nuss hin. Er schätzte gutes Essen und Trinken sehr, wobei es keine kulinarische Leidenschaft war. Es war nicht die feine Küche, die ihn begeisterte, sondern das hochwertige, seltene und unverfälschte Produkt, das seine Geschmacksnerven stimulierte. Die Kombinationen aus salzig, süß, bitter, sauer oder würzig zu entschlüsseln, brachte ihm höchste Befriedigung. Bier lehnte er ab. Weine und Champagner mussten einen eigenen, unverkennbaren eigenständigen Charakter haben, dann genoss er sie ausnahmslos. Dom Perignon aus dem Hause Moet & Chandon war für ihn konkurrenzlos.

Jetzt war er endlich wieder ganz bei sich und seine Gedanken wanderten wieder zu seinem Kunden. Diesmal würde seine Geschäftsreise zu keinem schnellen Abschluss führen. In der Vergangenheit war der reiche Familienunternehmer immer schnell und unkompliziert auf seine Vorschläge eingegangen. Seine hohe Liquidität floss in Produkte seiner Investmentbank und brachte seinem Arbeitgeber und nicht zuletzt auch ihm satte Profite, allerdings blieben seine letzten beiden Vorschläge den Erfolg schuldig. Tatsächlich war die Situation schlimmer als der Investor vermutete, wenn nicht bald eine Wende an den Zinsmärkten eintrat.

Er steuerte einen nur mäßig besuchten Weinstand an und bestellte ein Glas weißen Rioja. Neben seiner ersten Lieblingsbeschäftigung, beruflich erfolgreich zu sein, die ihm gegenwärtig nicht so viel Freude einbrachte, liebte er es Passanten zu beobachteten. Er studierte Physiognomie, Gang, Haltung und Gestik. Dann schloss er auf die Persönlichkeit. Besonders gerne beobachte er auch kleine Gruppen. Er suchte nach dem Hierarchiegefüge. Es gab immer einen Leader und einen Spaßverderber, der gerne Leader gewesen wäre, aber die Eigenschaften nicht ausreichend besaß. Die übrigen Gruppenmitglieder blieben mehr oder weniger passiv.

Das halb volle Weinglas aufnehmend bemerkte er, schon von weitem einen jungen Mann: elegant gekleidet, überdurchschnittliches Aussehen, forscher Gang und gerade Haltung. Immer den Blick kurz und unauffällig auf die Umgebung gerichtet, ob er auch wahrgenommen wird. Ein Mittelpunktmensch, Menschenfänger und Verführer, dachte Rudolph und schmunzelte. Er nippte an seinem Wein. In dieser Sekunde realisierte er, dass dieser junge Mann auf ihn zusteuerte. Er schätzte sein Alter auf fünfundzwanzig Jahre, also zehn Jahre jünger als er. Der freie Barhocker neben ihm war offensichtlich sein Ziel. Rudolph drehte sich instinktiv weg. Er hörte die holprige spanische Bestellung eines Vino Tinto. Es musste sich um einen deutschen Landsmann handeln.

Umso mehr erstaunte ihn, als sein Nachbar den halbblinden Lotterieverkäufer heranwinkte und für hundert Euro Lose der Weihnachtslotterie erstand. Der Halbblinde zitterte vor Glück, bedankte sich überschwänglich und verließ beschwingt den Fresstempel. Rudolph vermutete, dass sich der Glückliche früher als sonst dem Feierabend widmen würde, um sich einen guten Roten in seiner Stammbar gut schmecken zu lassen.

„Da wäre Ihr Geld in den Köstlichkeiten dieser Halle besser angelegt.“, sagte Rudolph, der sich einen Kommentar nicht verkneifen konnte und schüttelte belustigt den Kopf.

Der Angesprochene war immer noch dabei die Lose in seinen beiden Gesäßtaschen der sommerlich hellgelben Leinenhose zu verstauen, wandte sich ihm zu, schaute ihm offen ins Gesicht, schmunzelte spitzbübisch und antwortete: „Geht beides. Ich kann die Lotterie nur empfehlen. Sie macht Weihnachten spannend und die Familientage erträglicher.“

„Vitus Blecher“, stellte er sich vor und streckte ihm die linke Hand zum Handschlag hin.

Was ist denn das für eine Marotte, dachte Rudolph.

„Ich bin immer auf der Suche nach Linkshändern. Ich schätze diesen Menschentypus sehr. Selten bin ich von diesen Menschen enttäuscht worden. Sie sind sensibel und glauben an die Macht von Heilsteinen und sind offen gegenüber den Fügungen des Schicksals.“

Es trat eine peinliche Pause ein, die sein Gegenüber zu genießen schien.

„War ein Scherz.“, sagte er schließlich.

Seine grünen Augen funkelten spöttisch.

„Rudolf Rudolph.“, erwiderte Rudolph. Bei jeder seiner Vorstellungen beobachtete er aufmerksam, wie sehr die Alliteration sein Gegenüber verwirrte oder gar verlegen machte.

„Ihre Eltern haben aber Phantasie bewiesen. Fast so schön wie A Boy named Sue von Johnny Cash.“

Rudolph lächelte mit einem kaum wahrnehmbaren wehmütigen Blick. Er verschwieg ihm fürs Erste, dass seine Eltern diese Namenskombination nicht in einem Anfall von missverstandener Originalität erfunden hatten, sondern dass von ihm so wenig geschätzte Schicksal. Er war ein Adoptivkind und sein Vorname lautete Rudolf. Als Kleinkind wurde er in ein gut bürgerliches Elternhaus mit Familienname Rudolph verpflanzt nach dem sich seine drogensüchtige alleinerziehende Mutter ins Fegefeuer verabschiedet und einen zweijährigen Sohn zurückgelassen hatte.

„Ich bin zwar Rechtshänder, bevorzuge aber die linke Gehirnhälfte. Vielleicht genügt Ihnen das als Sympathiepunkt. Die Rechte dient nur dazu meinen Kopf in Balance zu halten.“

„Was verschlägt Sie nach Madrid?“, setzte er fort, um die Kommunikation in Gang zu halten.

„Ich bin geschäftlich hier und gehöre dem ehrbaren Berufsstand der Consultingbranche an. Man kann mich über meine Firma mieten, und ich erzähle den Mitarbeitern alles, was mein Auftraggeber verlangt. Manchmal lasse ich sie in Arbeitsgruppen ihr eigenes Todesurteil erarbeiten. Ich bin Spezialist für Rationalisierungen. Und Sie? Lassen Sie mich raten. Sie sind Banker.“

„Richtig. Ich diene meiner Investmentbank mit dem Verkauf von Finanzprodukten, die eine hohe Marge besitzen.“

„Für den Kunden oder für die Bank?“

Rudolph nahm die leise Polemik seines Gesprächspartners auf. „Für meine Bank mit Sicherheit, für den Kunden nach Möglichkeit auch. Ist aber kein Muss. So ist die Philosophie unseres kundenorientierten Hauses.“

„Verstehen Sie, was Sie verkaufen?“

„Die meisten Produkte habe ich selbst entwickelt.“

Rudolph bemerkte, dass er Blecher beeindruckt hatte, da dieser anerkennend nickte und seinem Gesichtsausdruck glaubte er, Bewunderung zu entnehmen.

Mit Blick auf die beiden leeren Gläser fragte Rudolph: „Noch ein Glas Rotwein?“

„Gerne.“

Er bestellte ein Glas Rotwein und für sich ein Glas Wasser.

Nach dem beruflichen Kurzcheck kam das Private dran. Lektion eins: Small Talk, dachte Rudolph und nippte an seinem Wasserglas.

„Wo ist Ihre Heimatbasis?“

„Ich wohne im schönsten und teuersten Großdorf Deutschlands.“

Sein Gesprächspartner stutzte erst, begriff aber schnell.

„Ah, was für ein Zufall. Ich lebe auch in München. Eine wunderbare Stadt. Sicher keine Metropole, da haben Sie schon recht, aber ein Flecken mit wunderbarer Umgebung.“

Rudolph verschwieg ihm, dass er Berlin mehr als München schätzte und dort seinen zweiten Wohnsitz hatte. Blecher wechselte zum nächsten klassischen Small-Talk-Thema.

„Sind Sie verheiratet?“

„Nein, der Beruf erlaubt mir keine Ablenkung. Bis jetzt wenigstens. Es reicht nicht einmal für eine feste Freundin.“

„Mir geht es ähnlich. Consultants sollten Heiratsverbot bekommen.“

Rudolph schmunzelte und sagte: „Klare Regeln sind immer von Vorteil. Aber warum tun wir uns das alles an?“

„Ich betrachte das als rhetorische Frage. Wir verdienen unanständig viel Geld, wenn wir unsere Bonusziele erreichen. Wir schätzen die Freiheit durch finanzielle Unabhängigkeit hoch ein. Insbesondere die vielfältigen Annehmlichkeiten, die von unseren Neidern als Statussymbole denunziert werden. Was für ein Auto fahren Sie?“

„Einen schwarzen Panamera.“

Rudolph bemerkte, wie Blecher zufrieden lächelte. Er fühlte sich wohl bestätigt.

„Ich fahre eine knallrote BMW 7er Limousine mit allen Extras, die diesem Autoproduzenten je eingefallen sind. Das macht unser Selbstwertgefühl aus. Und wir lieben es. Richtig?“

Rudolph nickte und dachte, dass macht dein Selbstwertgefühl aus. Für mich ist das Bequemlichkeit und Annehmlichkeit, die mir guttut. Ich würde das auch auf einer einsamen Insel haben wollen. Er spürte, wie sein Gesprächspartner begünstigt durch den Rotwein so richtig in Schwung kam.

„Ich bin überzeugt, dass hart erarbeitete Privilegien auch verteidigt werden müssen, wenn sie in Gefahr geraten. Manchmal glaube ich, dass ich die Kraft dazu aufbringen könnte, sprichwörtlich über Leichen zu gehen.“

Wieder nickte Rudolph und dachte, ich weiß, dass ich über Leichen gehen würde. Er sagte jedoch: „Man sollte sich in seiner Entschlossenheit und seinem Mut nicht überschätzen, wenn es um das Überschreiten von gesellschaftlichen Normen geht, die mit empfindlichen Strafen bewehrt sind.“

„Sie drücken sich ganz schön umständlich aus.“, stöhnte Blecher, nahm einen weiteren großen Schluck und fuhr flapsig provozierend fort: „Man darf sich halt nicht erwischen lassen.“ Dabei grinste er Rudolph an.

„Diese Einstellung ist typisch für Spielernaturen, die fest daran glauben, eine Glückssträhne wird vom Schicksal geschickt.“

„Schicken und Schicksal passt doch! Was soll es denn sonst sein?“, rief Blecher.

Leicht genervt, was sein zusammengekniffener Mund und ein kurzer hämischer Ausdruck in seinen Augen offenbarten, setzte er fort: „Eher die Wahrscheinlich-keitsrechnung insbesondere bei statistisch unabhängigen Ereignissen. Bei dem berühmten Münzwurf kann die Zahl meinetwegen fünfzigmal hintereinanderkommen, ohne dass der Gott des Schicksals besser gesagt die Göttin Fortuna eingegriffen hat. Ach lassen wir das.“

Rudolph spürte, dass er auf die falsche Bahn geriet und überlegte kurz. Dann lächelte er seinen Nachbarn versöhnlich an und fragte: „Was haben Sie heute Abend noch vor?“

„Ich will mich nur amüsieren. Also nichts Bestimmtes.“

„Keinen Appetit? Ich habe Appetit. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Abendessen?“

„Appetit habe ich nicht, aber ordentlich Hunger.“, antwortete Blecher schmunzelnd.

Aus Bequemlichkeit schlug Rudolph das Ritz Garden Restaurant vor. Blecher war einverstanden.

„Das geht sich gut aus. Ich wohne im Wellington Hotel. Das liegt in der Nähe.“

Sie konnten die Markthalle nur langsam verlassen, so dicht war das Gedränge. Die herrlichen Auslagen der einzelnen Stände waren nur noch selten zu erkennen, da ein dicht gedrängter Menschenschwarm sie fast vollständig verdeckte. Rudolph begann, sich unwohl zu fühlen. Kein ausreichender Abstand zu seinen Artgenossen, dass mochte er nicht. Vor ihm glitt Blecher elegant durch die Menge mit einem gewinnenden Lächeln und immer die hübschesten Frauen als Fahnenstangen umkurvend. Er war ihm schon zehn Meter voraus.

Endlich erreichten sie den Ausgang. Rudolph atmete intensiv die frische Nachtluft ein und fühlte sich befreit.

„Da war ja ordentlich was los. Vielleicht hätten wir bleiben sollen?“, gab der gut gelaunte Blecher zum Besten.

Rudolph versagte sich eine Antwort und winkte ein Taxi heran Er gab dem Fahrer die Zieladresse an und stieg auf der Beifahrerseite ein. Blecher nahm hinter ihm Platz. Sie schwiegen während der kurzen Fahrt.

Rudolph schaute nachdenklich aus dem Fenster und erwog die Umsetzung einer Idee, die er schon lange mit sich herumtrug, aber zu deren Verwirklichung er einen Partner brauchte. Er hatte seinen Einfall das zweite Ich getauft. Der Erfolg seiner Idee hing davon ab, dass die Bekanntschaft und Zusammenarbeit zwischen zwei Personen der Umwelt verborgen blieb. Diese Zusammenarbeit konnte er sich auf den verschiedensten Gebieten vorstellen, angefangen von Insidergeschäften bei Finanztransaktionen bis hin zu Gewaltstraftaten, die das zweite Ich ausführte zum Vorteil seines Alter Ego. Die Strafbehörden mit ihren üblichen Aufklärungskriterien wie Alibi und Motiv würden ins Leere laufen.

Allerdings bedeutete die Grundannahme dieser Idee, dass er sich sehr früh einem möglichen Partner offenbaren musste. Wartete er zu lange, um die Eignung des Partners einzuschätzen, riskierte er, dass die Beziehung öffentlich wurde. Und seine strafbewehrten Aktionen drohten aufzufliegen. Nie und nimmer darf mir das passieren, dachte Rudolph.

Angekommen, fragte er nach einem Platz für zwei Personen im Jardin Hotel Ritz, dem Goya Restaurant. Die junge Empfangsdame am Eingang des Goya Restaurants hatte nur Augen für seine Begleitung und Blecher schien es zu genießen.

„Aber sicher.“, flötete sie und nahm mit Schwung zwei Speisekarten. Sie bot drei freie Tische zur Auswahl an und Rudolph wählte den etwas abseits ruhig gelegenen Tisch.

Sie machten es sich in den Korbstühlen gemütlich. Der herbeigeeilte Kellner ging mit dem Auftrag ein exzellentes Glas Champagner, einen ordentlichen Malt Whiskey und eine große Flasche Wasser zu besorgen. Schweigend und konzentriert prüfte Rudolph die Speisekarte.

„Ich schlage einen St. Peter Fisch in Salzkruste vor, das reicht für uns beide. Kann ich nur empfehlen.“

„Einverstanden.“, erwiderte Blecher, „falls wir uns auf eine Tortilla als Beilage verständigen können.“ Rudolph gab die Bestellung für beide auf, als der Kellner die bestellten Getränke und rohe Lachshäppchen servierte. Er hätte es gerne bei einem Salat als Beilage belassen. Low carb, aber er widersprach nicht.

Mit vollem Mund erzählte Blecher: „Ich bin Diplom-Psychologe. Meine Helden in der Studentenzeit waren die Verhaltensforscher, die mit Beobachtungen und klugen Versuchsanordnungen bei Mensch und Tier die Triebfedern ihrer Beobachtungssubjekte freilegten. Ihre Erkenntnisse sind Grundlage mehr oder weniger erfolgreicher Manipulationen von Individuen und Massen geworden. Erfolgreiche Werbung wäre ohne diese Vorarbeiten undenkbar. Natürlich gehört auch persönliche Begabung und Eignung dazu, Menschen zu führen und verführen.“

Rudolph dachte, dass ihm so ein Menschenfänger und Verführer gegenübersaß. Er beobachtete seine Gestik und Mimik. Er sah einen lebhaften extrovertierten Menschen vor sich, dessen Körpersprache nicht einstudiert wirkte und der sich ganz auf ihn konzentrierte.

„Ich unterhalte gerne mein Gegenüber oder ganze Gruppen. Es strömt nur so aus mir heraus. Einmal habe ich einen teuren Kursus in Rhetorik belegt und ihn nach der zweiten Runde enttäuscht verlassen. Ich wusste schon alles instinktiv. Es ist mir sozusagen angeboren.“

Rudolph sagte provozierend:“ Diese Begabung bewundere ich so sehr, dass ich davon träume, sie durch ein Computerprogramm ersetzen zu können.“

„So ein Quatsch!“

„Doch. Ich werde Sie arbeitslos machen.“

„Das glaube ich erst recht nicht!“

„Ich sage nur Digitalisierung.“

Blecher lachte herzlich. „Das kann ich in meinem beschwingten Zustand ja kaum unfallfrei aussprechen.“

„Die Digitalisierung ist die große Zukunft, sie wird die Politik sowie das Geschäfts- und Privatleben revolutionieren. Das Verhalten der Menschen wird erkennbar und damit auch steuerbar. Die Suchmaschinenbetreiber und sozialen Plattformen wie Google und Facebook sammeln und speichern jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang Informationen ihrer Nutzer. So entsteht ein unermesslicher Datenraum, den entsprechende Algorithmen nutzen können, um für einzelne Personen, deren Charakter, Wünsche und Sehnsüchte erkennbar und nutzbar zu machen.

„Schon wieder ein Begriff, der meine Zunge verknoten könnte. Dieser Algorithmus.“

„Formeln, Berechnungsverfahren verfeinert mit Wahrscheinlichkeitsrechnung.“

„Ja, ich weiß. Nur neu für mich ist, dass ihr Mathematiker offensichtlich glaubt, die Arbeit der Psychologen erledigen zu können.“

„Das erwarte ich.“

„Oh, ich werde durch Formeln und Wahrscheinlichkeitsrechnung ersetzt. Den Kampf nehme ich auf.“ Blecher lächelte herausfordernd und zeigte seine zwei Grübchen in voller Tiefe und Schärfe.

„Ich gebe es zu, es ist noch ein weiter Weg dahin.“, beschwichtigte Rudolph und lieferte weitere Argumente, warum es so kommen musste. Es gab Antriebsfedern wie Schutz der Bürger vor Terrorismus oder Schutz der Regierungen vor ihren Wählern und so weiter und so weiter. Der Abend im Restaurant verging wie im Flug und neigte sich langsam dem Ende zu als Rudolph plötzlich das Thema wechselte.

„Ich trage diese Idee schon eine ganze Zeit mit mir herum, habe aber noch keinen Partner gefunden. Vielleicht hat mich das Schicksal heute den richtigen treffen lassen.“ Das mit dem Schicksal kommt bei ihm bestimmt gut an, dachte er.

„Um was geht es denn?“

„Ich möchte Ihnen einen lukrativen Vorschlag unterbreiten. Es mag seltsam klingen, eröffnet aber ungeahnte Möglichkeiten.

Wir sollten unsere Bekanntschaft exklusiv halten.“

„Wie meinen Sie das?“

„Keiner erfährt, dass wir uns kennen.“

„Ach, und wieso?“

„Zum Beispiel Insidergeschäfte. Aber wer weiß was die Zukunft bringt? Vielleicht fallen uns noch Projekte ein, die wir zusammen durchziehen können, wobei es sehr hilfreich ist, dass keiner über unsere Beziehung, unser abgestimmtes Handeln, Bescheid weiß.“

Rudolph spürte förmlich, wie die anfängliche Verunsicherung seines Gesprächspartners in spitzbübisches Einverständnis umschlug.

„Wie kommunizieren wir unerkannt?“, fragte Blecher.

„Gute Frage. Informieren Sie sich über den TOR Browser und richten ihn ein. Übrigens kostenlos und einfach zu bewerkstelligen. Ich werde mich in ungefähr zwei Wochen über diesen Weg melden.“

Blecher nahm eine Papierserviette als Notizzettel. Er brauchte drei Versuche bis sein Stift funktionierte und er den Namen des Browsers einigermaßen leserlich festhalten konnte.

„Es ist kurz nach Mitternacht. Ich verabschiede mich und gehe den kurzen Weg zu meinem Hotel.“ Dann lächelte er seinen neuen Partner leutselig an und fuhr fort: „Das war ein überraschend spannender Abend.“

Rudolph nickte und bemerkte, dass er ihm die rechte Hand zum Abschied hinhielt, die er fest einschlug.

„Auf eine aufregende und ertragreiche Zukunft.“

Rudolph schaute Blecher nachdenklich nach, wie er den Restaurantgarten verließ. Dieser streckte den linken Arm nach oben und winkte mit der Hand ohne sich umzudrehen. Er fühlte sich ertappt. Auf dem Weg zu seiner Suite fragte er sich, warum er dieses Angebot der Exklusivität gerade diesem Mann so schnell unterbreitet hatte. Er trug schon lange diese Idee mit sich herum. Die geheime und auf gegenseitigem Vertrauen basierende Bekanntschaft zweier Menschen eröffnete aus seiner Sicht ungeahnte Möglichkeiten. Immer wieder schwebten ihm Situationen vor insbesondere im Finanzgeschäft wie Insiderhandel oder Front Running mit zwar illegalen aber höchst profitablen Geschäften. Und er war gespannt, welche Ideen ihm sonst noch einfallen würden.

Er öffnete mit einer Magnetkarte die Tür zu seiner Suite, ging ins Bad und zog sich langsam aus, legte alles sorgfältig an seinen Platz, legte sich nackt ins Bett und schlief sofort ein.

Er stand um sechs Uhr auf und suchte den Fitnessraum auf. Die Waage im Bad seines Hotelzimmers hatte vorne eine acht gezeigt. Ein Alarmzeichen, welches er nicht ignorieren konnte. Sein Body-Mass-Index lag jetzt bei 26.4. Über fünfundzwanzig. Zwar stimmte der Hinweis, dass Sportler aufgrund ihrer größeren Muskelmasse oftmals einen BMI über fünfundzwanzig hatten und in diesen Fällen kein Übergewicht vorlag. Aber seine Ansprüche an sich selbst waren hoch. Er hatte dem Laufband schon zehn Kilometer abgerungen, seine helle Sportkleidung war von Schweiß durchtränkt und mit großen dunkeln Flecken versehen. Das musste reichen. Es blieb noch ausreichend Zeit sich frisch zu machen, zu frühstücken und das bestellte Taxi zum Flughafen zu besteigen.

Im Frühstücksraum holte er sich Früchte und Naturjogurt und dachte an den gestrigen Abend. Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er hatte die berühmte eine Nacht darüber geschlafen und war mehr denn je überzeugt, gestern einen Mann getroffen zu haben, den er zu beidseitigem Vorteil einsetzen konnte. Und vielleicht nicht nur im Finanzbereich. Schon sein Äußeres mit grünen Augen, römischer Nase, breitem Mund, vollen Lippen und energischem Kinn sollten beim weiblichen Teil der Bevölkerung von Vorteil sein. Der liebe Gott hatte sich Mühe gegeben, alle Klischees eines gutaussehenden Mannes in seinem Gesicht unterzubringen. Überdies musste sein BMI-Wert im Idealbereich liegen. Er hatte zwar ebenfalls eine Größe von 1,75 Meter, war aber offensichtlich schmaler als er. Er schätzte sein Gewicht auf 75 Kilogramm und gestand sich seinen Neid ein. Ein Blick auf seine Uhr unterbrach seine Gedanken, denn es wurde höchste Zeit aufzubrechen, um den Flieger noch rechtzeitig zu erreichen.

Das Taxi brauchte eine Viertelstunde, obwohl der Berufsverkehr sehr dicht war. Die Taxifahrerin war eine aufgeweckte junge Frau, die jede Überholmöglichkeit nutzte und rücksichtslos andere Fahrzeuge schnitt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Die Hupkonzerte nötigten ihr nur ein verschmitztes Grinsen ab. Ihr Gast nickte anerkennend und gab am Ende der Fahrt ein großzügiges Trinkgeld. Ohne Eile erledigte er den Check-in am Automaten, nutzte die Fast Line der Gepäckkontrolle und schlenderte zum Gate. Hier wartete er auf den Aufruf für Business Gäste zum Priority Boarding. Jetzt hatte Rudolph ein Déjà-vu. Sein Bekannter von gestern näherte sich im perfekten Business Outfit dem Gate. Er trug einen Sommeranzug in hellblauer Farbe, braune Schuhe und gelbe Socken und beobachtete die Umgebung. Ohne Zweifel er fällt auf, dachte Rudolph und folgte ihm weiter mit seinen Blicken. Auch Blecher nahm ihn wahr auf eine Art, die nur der Investmentbanker erkennen konnte, aber nicht Außenstehende.

Dann haben wir also den gleichen Rückflug, muss einen irgendwie nicht überraschen, dachte Rudolph. Es erfolgte der Aufruf für das Priority Boarding der Businessgäste, worauf sechs Männer und eine Frau so lässig und selbstverständlich wie möglich losgingen, ihr Privileg zu genießen.

Blecher zwängte sich in die Reihe 3AC, um den Fensterplatz einzunehmen. Sie würden in einer Reihe sitzen nur durch den leeren Mittelsitz getrennt. Er grüßte seinen Nachbarn freundlich, der seinen Gruß gelangweilt erwiderte. Rudolph schmunzelte als er zur Kenntnis nahm, dass sein Sitznachbar schon formvollendet die Schlafstellung eingenommen hatte, bevor er sich selbst eingerichtet und seine Fluglektüre aus der Reisetasche genommen hatte. Der Flug verlief erwartungsgemäß ruhig. Blecher wachte erst kurz vor der Landung auf, als Rudolph gerade sein Taschenbuch zuschlug. Er hatte Tod am Nachmittag von Ernest Hemingway gelesen.

Zweimal Morden lohnt sich

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