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4. Kapitel

Montag, 13. Oktober 2008, München

Rudolph hatte etwa zur gleichen Zeit seine Analyse der Todesanzeigen der letzten vier Wochen abgeschlossen. Er entschied sich, drei Trauerfälle in die engere Wahl zu nehmen. Die Toten waren erfolgreiche Familienunternehmer gewesen. Einer hatte ein bundesweit tätiges Immobilienmaklerunternehmen geführt und war im Alter von sechsundsiebzig Jahren verstorben und hinterließ aus zweiter Ehe eine zweiundzwanzigjährige Tochter. Der zweite führte ein typisches Mittelstandsunternehmen, welches Weltmarktführer bei Motorsägen war. Der Arme war bereits mit einundsechzig Jahren auf einer Geschäftsreise in Afrika verstorben. Eine Terrorgruppe wollte mit ihm ein Lösegeld erzielen. Der Entführte überlebte nicht wegen seines schwachen Herzens. In jedem Zeitungsartikel wurde sein inniges Verhältnis zu seiner Tochter hervorgehoben. Schließlich gefiel ihm noch der junge weibliche Nachkomme eines sanft entschlafenen Patriarchen, dem in Deutschland zwanzig Schlachthöfe gehörten, die sich aus Liebe und Dankbarkeit mit dem Kosenamen: dein kleines Schlachterl, verabschiedete. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und aus vierter Ehe.

Wie er nicht anders erwartet hatte, nutzen diese drei trauernden jungen Frauen Computer, die mit integrierter Webcam und Micro ausgestattet waren. Ihre Smartphones waren immer aktiv. Auch gehörten sie der großen Facebook-Familie an. Um auf ihre Computer zugreifen zu können, schickte er ihnen eine E-Mail, die er mit, Mein tiefes Beileid ein trauriger Freund, betitelte. Ohne Ausnahme öffneten die drei Adressatinnen diese E-Mail und infizierten ihren Computer mit dem Virus Dark Comet.

Dann verschaffte er sich Zugriff auf ihre Smartphones. Schließlich setzte er einen Profiling-Algorithmus ein, den er vor einem halben Jahr im Urlaub entwickelt hatte. Dieses Programm wertete die eingehenden Daten aus, um eine Grundlage für ein vorläufiges Psychogramm zu haben. Er konnte sich graphisch jeden neuen Tag das vierundzwanzigstündige Bewegungsprofil anschauen. Bei Bedarf schaltete er als Zusatzinformation die Dauer des Aufenthaltes an einen bestimmten Ort dazu. Webcam und Micro gewährten ihm wertvolle Einblicke. Er speicherte zu verschiedenen Tageszeiten Bild- und Tonabschnitte und dies jeden Tag. Diese Informationen benutzte Rudolph, um eine Idee über die Persönlichkeit der beobachteten Personen zu bekommen. Er versuchte, Stimmungsschwankungen zu erkennen und lobte den Tag, wenn diese Aufgabe ein genialer Algorithmus über Bild- und Spracherkennungsdaten für ihn erledigen würde. Auf Basis der aktuellen Hilfsmittel wären ihm die psychologischen Kenntnisse von Vitus sehr willkommen gewesen.

Auch hilfreich waren die Eintragungen bei Facebook und Twitter.

Er wusste, dass noch viel im digitalen Bereich der Beobachtung und Auswertung zu bewerkstelligen war. Immense Möglichkeiten schwebten ihm vor. Jetzt musste er sich mit den vorhandenen Bordmitteln begnügen.

Nach vierzehn Tagen analysierte er seine Daten und automatischen Auswertungen. Sein gefühlter Favorit war „Schlachterl“. Aber sie erwies sich, als psychisch starke Persönlichkeit und war zudem noch lesbisch. Blieben zwei Kandidatinnen übrig. Seine Analyse ergab, dass beide nach dem Tod des Vaters psychisch sehr angeschlagen waren. Insbesondere die Tochter des Entführungsopfers haderte mit dem Schicksal, war aus der Kirche ausgetreten und besuchte regelmäßig einen Psychologen. Sie wieder aufzurichten mit starken Schultern, traute er sich durchaus zu.

Die Waise des Immobilienmaklers besuchte täglich das Familiengrab und vergaß nie, für ein stilles Gebet anschließend die Friedhofskapelle aufzusuchen. Rudolph gab ihr gute Chancen seine Kandidatin zu werden. Alle Daten deuteten darauf hin, dass sie autoritätsgläubig war und nach Erlösung im christlichen Sinne suchte. Da konnte ein erfahrener, in sich gefestigter, verständnisvoller Freund und späterer Ehemann durchaus hilfreich sein. Er beschloss, mit der jungen Dame Kontakt aufzunehmen. Ihr Name war Emma Weidach.

Religiöse Immobilienmakler gab es sehr selten, aber der verstorbene Alexander Weidach hatte es geschafft, dass die katholische Kirche in München sein größter und treuester Klient war. Dies hatte seine Gottesfürchtigkeit und Demut immer dann gefördert, wenn er eine aktuelle Aufstellung seines nicht unerheblichen Vermögens analysiert hatte. Seine Tochter war schon früh von tiefer Religiosität erfasst, die er als Geschäftsmann und Vater gefördert hatte. Er hatte seiner kirchlichen Klientel immer wieder diesen Beweis präsentiert, der die tiefe Verbundenheit seiner Familie auch in der jüngsten Generation mit der Philosophie seines Hauptkunden belegte. Gerne hatte Emma Weidach den Vorsitz einer von ihrem Vater ins Leben gerufene Stiftung übernommen, deren Zweck es war, atheistische oder agnostische Naturwissenschaftler wieder zurück in den Schoss der katholischen Kirche zu führen. Die Stiftungsgelder wurden ausgegeben für Klosteraufenthalte, Seminare und Selbsterfahrungskurse.

Rudolph spendete fünftausend Euro und beschrieb seine Läuterung durch die Finanzkrise, die ihn als selbstverliebten Mathematiker und theoretischen Physiker, einen Weg zurück in die Religiosität und Demut gewiesen hätte. Dafür wäre er sehr dankbar. Gerne würde er sich auch persönlich mit seiner Erfahrung für den Stiftungszweck verwenden.

Emma Weidach lud ihn zu einem Gespräch ein.

Zweimal Morden lohnt sich

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