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Prolog

Ich weiß: Man braucht einen ersten Satz. Also: Man gewinnt eine Perspektive am besten durch gewissenhafte Retrospektive. Mein Paradies heißt Venezuela, mein Mekka Angostura. Und um auch noch die letzten Menschen zum Weiterlesen zu animieren: Mein Napoleon Bonaparte trägt den Familiennamen Bolívar und ist Simón getauft. Mein Ferdinand Sauerbruch heißt Johann Gottlieb Benjamin Siegert; er ist zugleich mein Robert Koch. Sein Institut, die Klinik, die Labors liegen in der Stadt Angostura am Orinoco. Seine erste Ehefrau María Pilar Araujo erinnert an die Güte und Nächstenliebe der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Seine zweite Gattin Bonifacia kannte die tropische Botanik wie ihre Schürzentasche und bewegte sich in einer Art, die bei jedem Schritt an Barbara Campanini, „Barberina“, erinnert, die klassische Balletttänzerin des 18. Jh., die in Siegerts Heimat Schlesien einen legendären Ruf besaß.

Der erste Satz fällt derzeit inmitten der Coronakrise besonders leicht, in der die Angst sich ausbreitet. Angst kommt von angus, Enge. Angostura beschreibt eine räumliche Verengung am Fluß Orinoco. Im übertragenenen Sinne lässt sich an eine Verengung im Kopf, ein angsterzeugendes Element, denken. Und der Begriff steht für noch so vieles mehr: Einerseits trug die wunderbare ostvenezolanische Metropole in Guayana, gelegen am zweitgrößten Fluss Südamerikas, des Orinoco, jahrelang diesen Namen, tauchte in alten Schriften zuvor als „Santo Tomás de la Nueva Guayana“ auf1 und trägt seit 1846 den Namen Ciudad Bolívar – andererseits steht er für ein aromatisches Bittergetränk, das weltweit konsumiert wird: Der Amargo de Angostura oder Angostura Bitters. Der Name Angostura hat’s also in sich!


Guayana

Es ist schon erstaunlich, dass neben den berühmten Personen der Geschichte (Süd-)Amerikas, vor allem Alexander von Humboldt und Simón Bolívar2, einige weitere ihrer elementaren Unterstützer und unglaublich agilen Nachfolger bisher recht wenig Beachtung fanden. Dazu gehört allemal und aus vielerlei Gründen der aus Oberschlesien stammende Arzt und Angostura-Bitters-Schöpfer Dr. Johann Gottlieb Benjamin Siegert (1796 – 1870). Er war einer der zahlreichen Deutschen, die dem Venezolaner Simón Bolívar halfen, die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien durchzusetzen. Ben Siegert, wie wir ihn fortan verkürzt nennen wollen, kam im Panteón Nacional, einer Art Heiligtum in Venezuelas Hauptstadt Caracas, zu Ehren. Neben Siegert wurde dort zweier anderen Deutschen, Heinrich von Lützow (Enrique Luzzon) und Johann von Uslar, gedacht.3 Ihre Namen finden sich in dieser Stätte höchster Ehrerbietung zum ewigen Andenken in den Boden gemeißelt wieder.4

Im Gegensatz zu den anderen Deutschen ging Ben Siegert durch seine zwei Ehen mit Südamerikanerinnen – einer Kolumbianerin und einer spanischstämmigen Venezolanerin – und nicht zuletzt durch das lebenslange Wirken seiner Selbst und seiner vielköpfigen Familie in die Geschichte des lateinamerikanischen Teilkontinents ein. Er etablierte sich in Angostura, der bedeutendsten Handelsstadt am Orinoco. Es handelt sich um eine Ortschaft, die u. a. durch Bolívars Kongress von Angostura 1819 Berühmtheit erlangte. Ben Siegert eröffnete dort nicht nur eine private Praxis und ein Krankenhaus, er wirkte als Mediziner, Stabsarzt, Apotheker und höchst renommierter Bürger sehr zum Segen der Kommune in der ostvenezolanischen Region Guayana. Weltbekannt wurde er durch seine 1824 erstmals auf den Markt gebrachte flüssige Kreation, den Amargo de Angostura, vielleicht global besser bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung „Angostura Bitters“. Er kreierte nichts weniger als eine Weltmarke.

Ben Siegerts Biografie sucht auf der Welt bis heute ihresgleichen. Es ist auf der ganzen Erde kein Beispiel bekannt, das in seiner Entwicklung und Tragweite dem Siegertschen gleichkommt. Die politische, soziale und ökonomische, mithin die gesellschaftliche Bedeutung des Lebenswerkes Ben Siegerts verdient nicht nur breiteste Aufmerksamkeit, sondern erscheint für das Verständnis der Befreiung und Öffnung des nördlichen Südamerika im 19. Jh. unabdingbar. In der Person Ben Siegerts lässt sich nicht nur ein gravierender Teil der europäischen Geschichte (Preußen, Schlesien, Frankreich, Waterloo, Berlin) exemplifizieren, sondern wesentlichen Einblick in die Motive und Umsetzung der südamerikanischen Unabhängigkeit gewinnen. Siegert war nicht nur Zeitzeuge und aktiver Teilhaber der antinapoleonischen und bolivarianischen Kämpfe, sondern eine der prägenden Figuren der postrevolutionären Friedenszeit. Dass er im Laufe seines ungeheuer spannenden Lebens in Europa und Venezuela persönliche Begegnungen mit bekannten charismatischen Menschen aller Couleur hatte, unterstreicht die Bedeutung seiner Existenz. So zählt die Begegnung mit Heinrich Friedrich Wilhelm Achaz von Bismarck, dem „Schwarzen Schaf“ der berühmten Bismarck-Familie, bei der Überfahrt von Hamburg nach der dänischen Karibikinsel St. Thomas 1820 sicher zu den kuriosesten Ereignissen im Siegertschen Leben.5 Ben Siegerts reichhaltige Biografie öffnet so eine Vielzahl spannender Einblicke in essenzielle Facetten des zeitgenössischen internationalen Daseins im 19. Jahrhundert.

Angostura

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