Читать книгу Seewölfe Paket 5 - Roy Palmer - Страница 16
2.
ОглавлениеDer Stoßtrupp brach in der Abenddämmerung auf.
Big Old Shane übernahm das Kommando bei den Zurückbleibenden. Die wenigen Messer und Pistolen hatten sie sich geteilt. Auch die Männer in ihrem Versteck brauchten Waffen, da sie jederzeit damit rechnen mußten, von den Spaniern aufgespürt zu werden. Oder sich gegen andere Gefahren verteidigen zu müssen, fügte Hasard in Gedanken hinzu. Kaimane in dem nahen Fluß, Jaguare, Giftspinnen, Schlangen, die mörderischen Buschmeister …
Hasards Hand tastete unwillkürlich nach der Pistole in seinem Gürtel. Mit einer ganz ähnlichen Gebärde schloß der rothaarige Ferris Tukker die Finger um den Stiel seiner riesigen Axt. Dan O’Flynn und Ben Brighton hatten ebenfalls Pistolen, Ed Carberry benutzte ein langes, schmales Messer, das ihm überhaupt nicht gefiel. Batuti, der riesige Gambia-Neger, kämpfte sonst mit einem mächtigen Morgenstern, doch der war auf der „Isabella“ zurückgeblieben. Der schwarze Herkules behalf sich: ein scharfkantiger, kindskopfgroßer Stein, geknüpft in ein Netz aus zähen Lianen, würde ihm die gleichen Dienste leisten. Und Matt Davies brauchte keine Waffe. Bei ihm genügte es, wenn er den Stahlhaken seiner Armprothese etwas nachschliff.
Hasard hatte die Spitze, als die Männer einen der halbüberwucherten Wildpfade einschlugen, die sich durch den Urwald wanden.
Sie würden dem Fluß folgen. Denn niemand, auch die Spanier nicht, entfernte sich im Urwald weit von den Flußläufen, da sie die einzige sichere Orientierungsmöglichkeit boten. Hasards Blick bohrte sich in das schattenhafte Halbdunkel.
Dan O’Flynn, der von allen Seewölfen die schärfsten Augen hatte, war dicht neben ihm. Noch gingen sie rasch und traten fest auf, denn das Geräusch ihrer Schritte würde die Schlangen verscheuchen.
Hoffentlich, dachte Hasard. Hinter ihm fluchte Ed Carberry leise und ausdauernd, weil irgendein Insekt ihn gestochen hatte. Die Biester schwirrten zu Myriaden herum, der ganze Wald schien zu summen. Carberry bückte sich, um die Stichstelle mit angefeuchtetem Lehm zuzuschmieren.
Sie hatten Stunden damit zugebracht, ihre zerfetzte Kleidung soweit in Ordnung zu bringen, daß sie möglichst vollständig die Haut bedeckte. Ganz hatte sich das nicht bewerkstelligen lassen, und in einem ständigen stummen Kampf mußten sie sich der Insekten erwehren und die bereits vorhandenen Stiche abdecken, damit sie nicht wieder zu großen, eiternden Wunden wurden.
Ein paar umgestürzte Baumriesen versperrten den Weg. Schlingpflanzen wucherten, große rötlich-weiße Blüten schwammen bleich und fremdartig im Schatten. Hasard machte eine Bewegung, um den ersten der toten Stämme zu überklettern, da packte ihn Dan O’Flynn plötzlich am Arm.
„Da!“ flüsterte er. „Auf dem Stamm!“
Hasard starrte in die Richtung, die er wies – und zuckte zusammen. Eine handtellergroße Spinne bewegte sich auf der rauhen Rinde. Sie vollführte blitzartige, fast springende Bewegungen. Jetzt verharrte das Biest wieder. Der braungefärbte Körper hob sich kaum noch von dem Baumstamm ab.
„Eine Wolfsspinne“, sagte Ben Brighton leise. „Die Spanier auf der Teufelsinsel hatten eine Heidenangst vor diesen Spinnen.“
„Hab ich auch gehört“, sagte Dan. „Man kann einen Arm oder ein Bein verlieren, wenn man gebissen wird.“
„Spinne tot!“ erklärte Batuti.
Und ehe ihn jemand als Lügner hinstellen konnte, schlug er blitzschnell mit dem lianenumwickelten Stein zu.
Der braune Leib der Spinne wurde zerquetscht. Batuti grinste und zeigte seine prachtvollen weißen Zähne. Einer nach dem anderen überkletterten die Seewölfe die toten Baumstämme, aber jetzt waren sie noch vorsichtiger als vorher.
Minuten später erreichten sie eine Lichtung im Dschungel.
Überwachsene Felsen ragten zwischen den Baumriesen hoch. In unmittelbarer Nähe gurgelte bereits das Wasser des Flusses. Ein eigentümlich strenger Geruch hing in der Luft, und Batuti war der erste, der ihn erkannte.
„Leopard“, flüsterte er. „Verdammich!“
Hasard biß sich auf die Lippen. „Hier gibt’s keine Leoparden. Nur Jaguare …“
„Nur?“ flüsterte Ed Carberry verbiestert.
„Sie weichen den Menschen aus. Jedenfalls solange sie sich nicht angegriffen fühlen.“ Hasard kniff die Augen zusammen. Sein Blick glitt über die Lichtung, tastete die Waldsäume ab – und dann sah er plötzlich etwas ganz anderes als einen Jaguar.
„Spanier“, sagte er leise.
„Himmel, Arsch!“
Es war Carberry, der das fast unhörbar wisperte. Die Seewölfe rührten sich nicht. Noch standen sie gut gedeckt im Schatten, und jetzt sahen auch die anderen die Gestalten, die sich vom Fluß her durch das Dickicht gezwängt hatten.
Spanische Soldaten.
Schweißbedeckte, erschöpfte Gestalten, ein kleiner Trupp. Auf der Lichtung verharrten sie und unterhielten sich murmelnd. Ben und Hasard, die beide perfekt Spanisch sprachen, konnten jedes Wort verstehen.
„Ein Wahnsinn, sage ich euch!“
„Als ob es noch Sinn hätte, die verdammten Engländer zu suchen. Die sind doch längst von den Kaimanen gefressen worden.“
„Oder von den Piranhas. Oder sie sind vom Buschmeister gebissen, die Pythons haben ihnen die Knochen gebrochen, die Maden fressen sie …“
Der dritte Mann schien gar nicht genug davon zu kriegen, die verschiedenen Scheußlichkeiten aufzuzählen, die der Urwald zu bieten hatte. Aber seiner gepreßten Stimme war anzuhören, daß er lediglich seine eigene Angst betäuben wollte. Dabei hatte er bei der Aufzählung aller Gefahren sogar noch eine vergessen, wie er wenig später am eigenen Leib erfahren sollte.
Jäh und unvermittelt ertönte das Fauchen.
Von dem überwucherten Felsen löste sich ein schlanker, schwarz und gelb gefleckter Leib, grüne Raubtierlichter glommen. Mit einem gewaltigen Satz schnellte der Jaguar auf die schreckensstarren Spanier zu – und der Mann, der sich eben noch ausgemalt hatte, was den Seewölfen alles zugestoßen sein konnte, stieß einen schrillen Schrei aus.
Instinktiv warf er sich zur Seite.
Ein Prankenhieb streifte seine Schulter und schleuderte ihn zurück. Geschmeidig landete der Jaguar auf dem Boden, drehte sich fauchend um die eigene Achse und schnellte von neuem vorwärts. Ein mörderischer Prankenhieb schleuderte den zweiten Spanier ins Dickicht, aber da hatten die anderen bereits ihre Pistolen gezogen.
Peitschend entluden sich die Waffen.
Das Raubtier zuckte unter den Einschlägen und bäumte sich auf. Wieder fielen Schüsse. Während eine der Kugeln den Schädel des Jaguars zerschmetterte, rappelte sich der Mann, dem der Prankenhieb die Brust aufgerissen hatte, schreiend auf und floh durch die Büsche.
Der Körper des Jaguars zuckte noch ein paarmal, bevor er verendete.
Immer noch war das Geschrei des Flüchtenden zu hören. Der Mann war in Panik und vermutlich halb wahnsinnig vor Schmerzen und Angst. Seine Kameraden folgten ihm hastig, auch der Mann, den es an der Schulter erwischt hatte. Er taumelte, umklammerte seinen Arm mit der Hand – und er war gerade im Dikkicht verschwunden, als am Fluß die erschrockenen Stimmen der anderen aufgellten.
„Nicht, Juan! Vorsicht! Der Baumstamm! Der Baumstamm!“
Wasser spritzte.
Das Geschrei des Verletzten erstarb in einem dumpfen Gurgeln. Dann war da nur noch ein jähes, brodelndes Geräusch, als werde das Wasser von einem unsichtbaren Sturm aufgewühlt.
„Madre de Dios!“ rief einer der Spanier mit überkippender Stimme.
Hasard schluckte. Er wußte, was geschehen war. Vermutlich hatten die Spanier ihr Lager auf der anderen Flußseite. Der Verletzte mußte den Wasserlauf unvorsichtig überquert haben, in panischer Hast, von Entsetzen gejagt. Der Baumstamm, den er benutzt hatte, war umgekippt, er selbst ins Wasser gefallen, und dann …
„Piranhas“, sagte Ben Brighton, als habe er Hasards Gedanken gelesen.
Der Seewolf nickte. Ja, Piranhas. Diese kleinen, gierigen Räuber lauerten im Schlamm der Flüsse. Das Blut des verletzten Mannes mußte sie sofort angelockt haben. Und wenn sie erst einmal ihre mörderischen Zähne in eine Beute schlugen, dann dauerte es Sekunden, bis nur noch ein Skelett übrigblieb.
Minutenlang verharrten die Spanier schweigend.
„Zurück ins Lager!“ befahl dann einer von ihnen mit belegter Stimme. „Aber vorsichtig! Der Himmel mag wissen, ob der Stamm jetzt noch unser Gewicht trägt.“
Gemurmel.
Dann Stille – die atemlose Stille, die den Versuch der Spanier begleitete, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Nichts geschah. Kein neuer Schrei, kein neues Opfer, das ins Wasser klatschte. Hasard atmete tief durch und wandte sich zu den anderen um.
„Na also“, sagte er trocken. „Die Burschen werden uns ganz freiwillig in ihr Lager führen. Wir brauchen ihnen nur noch zu folgen.“
Eine gute Stunde später glommen die Campfeuer der Spanier durch die Dunkelheit.
Sie hatten ihr Lager auf einem felsigen Plateau in der Nähe des Ufers aufgeschlagen, in respektvoller Entfernung vom Wasser. Die kleinen Feuer bildeten einen Kreis um das große Zelt des Capitans und die primitiven Unterkünfte der Soldaten. Die Flammen sollten Raubtiere und Insekten vertreiben. Gegen die zahllosen Schlangen konnten sie nichts ausrichten. Die Gesichter der Wachen, die mit ihren Musketen patrouillierten, waren von Angst gezeichnet.
Auch die Pferde in dem primitiven Seilgeviert am Ufer scharrten und schnaubten unruhig. An der Küste oder im freien Gelände hätte ihr Verhalten die Menschen vor drohenden Gefahren warnen können, aber hier im Urwald, in einer Umgebung voller ständiger Gefahren, versagte dieses Alarmsystem. Die spanischen Wachen wirkten äußerst nervös, und sie wurden noch nervöser, als sie erfuhren, was dem Suchtrupp zugestoßen war. Einen zweiten Trupp würde der Capitan während der Nacht bestimmt nicht auf die Beine bringen.
Hasard grinste, während er sich vorsichtig zurückzog. Immerhin war es eine gewisse Genugtuung, zu sehen, wie wenig Spaß den Spaniern die Jagd auf die Flüchtlinge bereitete. Lautlos richtete sich Hasard im Schatten eines mächtigen Baumstamms auf, und die anderen sahen ihm gespannt entgegen.
„Etwa zwanzig Mann, schätze ich“, berichtete er flüsternd. „Wir warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat, dann werden Ben und ich versuchen, an das Zelt des Capitans heranzukommen.“
Dans Augen funkelten. „Und hinterher werden wir ihre Pferde auseinandertreiben, ihnen irgendeine hübsche Überraschung bereiten und …“
„Wir werden nichts dergleichen tun“, sagte Hasard trocken.
„Und warum?“
„Weil wir sie sonst am Hals haben“, knurrte Carberry. „Und weil sie dann wissen, daß uns doch noch nicht die Kaimane gefressen haben. Du wirst dich gefälligst ruhig halten, wenn du nicht willst, daß ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten …“
„Ph!“ zischte Dan.
Und Carberry verzichtete darauf, seinen Lieblingsspruch zu Ende zu bringen, weil es sowieso nur ein halber Spaß war, wenn er nicht mit voller Lungenkraft brüllen durfte.
Zehn Minuten später brachen sie auf.
Hasard und Ben hatten ihre Pläne im letzten Augenblick geändert und beschlossen, sich doch besser zu trennen. Der Seewolf wollte sich um das Zelt des Capitan kümmern, Ben Brighton versuchte, sich so nah wie möglich an die Soldaten heranzupirschen, die an den Feuern kauerten und sich leise unterhielten.
Dan O’Flynn ließ in aufgeregtem Flüsterton eine ganze Breitseite von Argumenten los, um ebenfalls mitzudürfen. Aber Hasard erklärte ihm, daß auch bei der Rückendeckung jemand sein müsse, der Spanisch sprach – und das konnte Dan noch von der Zeit her, als er mit einigen anderen auf der „Tortuga“ als Rudersklave geschuftet hatte.
Dan, Ferris Tucker, Carberry, Matt und Batuti übernahmen es, die Aktion zu sichern.
Hasard und Ben Brighton pirschten sich dicht am Waldsaum entlang und umrundeten das Lager. Etwa in Höhe des großen Zeltes trennten sie sich. Ben schlich weiter, um die Gespräche der Soldaten am Feuer zu belauschen, Hasard ließ sich auf Knie und Ellenbogen nieder und robbte vorsichtig über die freie, nur von feuchtem Gras bewachsene Fläche zwischen den Zelten.
Kerzen brannten in der Behausung des Capitans und zeichneten die Schatten von Männern auf die ausgeblichene Leinwand. Jemand gähnte verhalten, dann erklangen spanische Stimmen.
„… haben eigentlich recht, Capitan. Ich sehe auch nicht recht ein, daß wir hier herumkriechen und unser Leben riskieren, nur um diese Engländer wieder einzufangen. Warum überlassen wir sie nicht den Kaimanen, den Jaguaren, den Schlangen?“
„Dir scheint die Vorstellung, die diese Kerle gegeben haben, immer noch nicht zu genügen, Pedro.“ Die Stimme des Capitans klang scharf und befehlsgewohnt. „Das ist kein Alligatorenfutter. Wer es schafft, von der Teufelsinsel zu fliehen, der wird auch mit dem Urwald fertig. Und vergiß nicht die beiden Galeonen, Pedro! Sie liegen auf dem Meeresgrund! Versenkt von den Kerlen, die du für zu schlapp hältst, um mit ein bißchen Viehzeug fertigzuwerden.“
Pedro sog die Luft durch die Zähne. Ein scharfer Atemzug, der erkennen ließ, was er persönlich von dem „bißchen Viehzeug“ hielt.
„Aber was sollen die Burschen denn noch groß anrichten?“ fragte er beharrlich. „Ohne ihren Kahn sind sie verloren. Und wir haben doch schon Schiffe angefordert, die die ‚Isabella‘ wieder flottmachen und in Sicherheit bringen sollen.“
Hasard hielt den Atem an.
Schiffe angefordert, klang es in ihm nach.
Schiffe, um die „Isabella“ wieder flottzumachen!
Der Seewolf biß die Zähne zusammen, daß es knirschte. Wenn das zutraf, was er da gehört hatte, wenn es so weit kam, dann war die „Isabella“ verloren. Es durfte einfach nicht wahr werden. Die „Isabella“ aufgeben, das würden sie nur im äußersten Notfall, nur dann, wenn es überhaupt keine andere Möglichkeit zum Überleben gab. Sicher, sie konnten irgendwo an der Küste ein anderes Schiff kapern. Aber kein anderes Schiff war mit der „Isabella“ zu vergleichen. Sie würden auf jeden Fall darum kämpfen, sie würden jede noch so kleine Chance nutzen, und sie würden es schnell tun müssen.
„Diese Kerle sind auch ohne ihr Schiff noch gefährlich“, sagte der spanische Capitan. „Wir müssen sie finden. Wir müssen …“
Hasard hatte genug gehört.
Vorsichtig zog er sich zurück. Er blieb im Schutz eines der kleineren, primitiveren Zelte, aus dem rhythmische Schnarchtöne drangen. Erst unmittelbar daneben richtete er sich auf, wollte mit ein paar raschen Schritten zum Waldsaum hinüberhuschen – und schien im nächsten Moment zu Stein zu erstarren.
Fünf, sechs Yards von ihm entfernt stand ein spanischer Soldat, der offenbar gerade nach den Pferden gesehen hatte.
Beim Anblick des schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen wurden die Augen des Burschen rund wie Teller. Er riß den Mund auf. Holte Luft, um zu schreien – und Hasard wußte verdammt genau, daß er ihn nicht mehr daran hindern konnte …
Jäh und schrill zerriß der Schrei die Stille.
Ein Schrei, der unvermittelt abbrach und zu einem dumpfen Gurgeln wurde, denn da hatte Hasard dem Mann bereits die Faust ans Kinn geschmettert. Mit verdrehten Augen klappte der Spanier zusammen. Hasard sprang über ihn weg, aber er war sich nur zu klar darüber, daß der eine Schrei genügt hatte, um das Lager zu wecken.
Die Männer, die sich am Feuer unterhalten hatten, sprangen auf, wie von Giftnattern gebissen.
Der Capitan riß fast sein Zelt um, als er durch den Eingang stürmte. Spanische Befehle flogen hin und her, Flüche erklangen. Hasard blieb geduckt stehen, mit zusammengekniffenen Augen. Es wäre einfach gewesen, zu den anderen zu stoßen und einfach im Urwald zu verschwinden, aber noch befand sich Ben Brighton auf der anderen Seite des Lagers.
Hasard mußte wissen, wohin sich Ben Brighton wandte. Oder ob er überhaupt noch Gelegenheit erhielt, sich irgendwohin zu wenden. Ganz kurz nur war jenseits der Feuer Bewegung zu sehen – und einer der Spanier stieß einen schrillen Schrei aus.
„Da ist er! Da! Da ist einer von den Kerlen!“
Auch ohne seine Spanisch-Kenntnisse hätte Ben Brighton verstanden, was die Stunde geschlagen hatte.
Er schnellte hoch, warf sich herum, und stürmte in Richtung Ufer. Fünf, sechs Spanier nahmen die Verfolgung auf. Ben Brighton wandte sich nach rechts, wischte dicht vor den Kerlen vorbei, aber es waren noch genug andere da, um ihm den Weg abzuschneiden.
„Nicht schießen!“ brüllte der Capitan. „Ich will ihn lebend! Nicht schießen!“
Sehr freundlich, dachte Hasard, während er bereits geduckt quer durch das Lager raste.
Er mußte zu Ben.
Und die anderen hatten ebenfalls begriffen und würden ihnen eine Gasse freikämpfen. Schon hörte er huschende Schritte, das Knacken von Ästen. Auch die Spanier hörten es, die auf jener Seite des Camps aus ihren Zelten krochen. Fassungslos und erschrocken starrten sie ins Halbdunkel. Im nächsten Moment hatten sie das Gefühl, als habe die Hölle selber ihre sämtlichen Teufel ausgespuckt, um sie zu vernichten.
„Arwenack!“ dröhnte es aus der Schwärze.
„Ar-we-nack! Ar-we-nack!“
Wie Donner rollte der alte Schlachtruf der „Isabella“-Crew über das Lager. Gestalten brachen aus dem Dickicht, wilde, entfesselte Gestalten, die Messer und Pistolen schwangen. Eine riesige Axt glänzte im Mondlicht. Weiße, gebleckte Zähne schimmerten aus einem kohlschwarzen Gesicht. Die Spanier hatten das Gefühl, von einer halben Armee angegriffen zu werden, und selbst Hasard fragte sich für einen Moment, wie um alles in der Welt ein Grüppchen von fünf Männern ein solches Gebrüll zuwege bringen konnte.
Na ja: wo der Profos dabei war, Ferris Tucker, der schwarze Herkules Batuti, dessen Stimme es notfalls mit den Löwen seiner afrikanischen Heimat aufnahm …
Die ersten Spanier flohen.
Diejenigen, die Ben Brighton den Fluchtweg abschneiden wollten, waren für einen Augenblick verwirrt. Ihre Köpfe flogen herum. Sie wollte sehen, wer oder was da ins Lager eindrang gleich einem Gewittersturm, aber statt dessen sahen sie einen großen, breitschultrigen Mann mit flatterndem schwarzem Haar und eisblauen Augen, der mitten im Camp plötzlich aus dem Boden zu wachsen schien und unmittelbar vor ihnen emporschnellte wie ein Kastenteufel.
Hasard stieß einen wilden Kampfschrei aus.
Mit einem letzten Sprung brach er die Front seiner Gegner auf, griff sich die beiden nächstbesten Spanier und donnerte ihre Schädel gegeneinander. Klaglos kippten sie um. Drei andere griffen zu ihren Pistolen, der letzte Mann versuchte mit zitternden Fingern, die Muskete hochzubringen. Bisher war kein Schuß gefallen. Die Spanier brauchten ein bißchen Zeit, um den Schock abzuschütteln, und die Seewölfe sparten, soweit sie überhaupt Schußwaffen hatten, die Munition für den Notfall.
Noch dachte keiner von ihnen daran, diesen Kampf gegen eine Übermacht als echten Notfall zu betrachten.
Am anderen Ende des Lagers mischte sich donnerndes „Arwenack“-Gebrüll mit ersten Schmerzensschreien. Hasard trat einem der Spanier die Beine unter dem Körper weg und entriß dem Musketen-Mann die lange, unhandliche Waffe. Die beiden anderen Soldaten schafften es sogar noch, ihre Pistolen zu ziehen. Aber sie konzentrierten sich zu sehr auf den schwarzhaarigen Teufel, der da so plötzlich aufgetaucht war, und sie hatten Ben Brighton in ihrem Rücken glatt vergessen.
Der Bootsmann schlug zweimal kurz und trocken mit dem Kolben der Pistole zu.
Das war zuviel für die spanischen Schädel. Hasard grinste wild.
„Achtung!“ schrie Ben.
Der Seewolf wirbelte herum, um zu sehen, was von hinten auf ihn zu rückte.
Spanier!
Sieben, acht Männer unter der Führung des Capitans – entschlossen, diese lächerlichen zwei Engländer lebend zu überwältigen. Der Capitan hielt ein Schießeisen von gewaltigen Ausmaßen in den Fäusten. Oder besser, er hatte es in den Fäusten gehalten. Denn bevor er dazu kam, irgend jemanden damit zu bedrohen, wurde es ihm schon von Urgewalten aus den Fingern gerissen.
Hasard benutzte die Muskete als Keule.
Außer der Pistole erwischte er auch gleich noch einen Soldaten an der Schläfe und einen zweiten mit leicht gebremster Wucht seitlich am Hals. Beide verloren schlagartig die Lust an dem Kampf. Der Capitan taumelte, schrie und schlenkerte seine lädierten Hände. Mörderischer Schmerz raste durch seine Arme. Er sah nur noch roten Nebel, und aus diesem Nebel heraus zuckte etwas auf seine Stirn zu, das er nicht mehr zu erkennen vermochte. Es war der Kolben von Ben Brightons Pistole.
Der Capitan legte sich schlafen.
So konnte er seine Leute auch nicht mehr mit sämtlichen Strafen der Hölle bedrohen. Und die restlichen fünf Soldaten dachten nicht mehr daran, ihre Knochen zu riskieren, um diese beiden wie leibhaftige Tiger kämpfenden Engländer lebendig zu fangen.
Finger krallten sich um Pistolenkolben und Säbelgriffe.
Jetzt wurde es kritisch, aber jetzt war es wenigstens für diese fünf Angreifer fast zu spät. Denn inzwischen hatten die restlichen Seewölfe mit den Spaniern aufgeräumt, die auf der anderen Seite des Lagers verschlafen aus ihren Zelten gekrochen waren. Wie eine Horde entfesselter Teufel stürmten sie in Richtung Ufer, allen voran Batuti mit gebleckten Zähnen und wild rollenden Augen, und auch diesmal wurden die Spanier für eine entscheidende Sekunde von heillosem Schrecken gelähmt.
Hasard und Ben schnappten sich je einen der Kerle.
Zwei begingen den Fehler, sich den Angreifern mit gezogenen Pistolen entgegenzuwerfen. Dabei gerieten sie in die Bahn von Batutis Ersatz-Morgenstern. Ein einziger Schuß fiel, aber der Anblick des riesigen, wahrhaft furchterregenden Negers ließ den Schützen in die Landschaft zielen. Wirkungslos fetzte die Kugel durch Blätter und Ranken, dann räumte der lianenumwikkelte Stein unter den Spaniern auf.
Der letzte, der noch stehen konnte, raste wie vom Leibhaftigen gehetzt davon.
Er raste dorthin, wo sich inzwischen der Rest der Spanier zum Angriff gesammelt hatte. Die Soldaten feuerten. Blindlings! Als ersten trafen sie ihren eigenen Kameraden, der aufheulend zusammenbrach, aber die Seewölfe wußten, daß das nicht so bleiben würde.
Jetzt waren sie es, die laufen mußten.
„Feuer!“ zischte Hasard.
Er, Ben Brighton und Dan O’Flynn schossen auf die Verfolger, brachten sie dazu, sich in panischem Schrecken zu Boden zu werfen, und hetzten weiter. Sie wußten, daß sie jetzt um ihr Leben liefen.
Nach ein paar Schritten schwenkten sie vom Ufer ab, sprangen auf das etwas höher liegende Plateau und nahmen den Weg quer durch das Lager. Musketen und Pistolen krachten, aber jetzt versperrten die Zelte das Schußfeld der Spanier.
Nur ein einziges Mal mußten die Seewölfe noch ein Stück freies Gelände überqueren. Ben, Dan und Hasard hatten ihre Waffen nachgeladen. Sie feuerten auf schattenhafte Gestalten zwischen den Felsen, ließen sich fallen, als die Schüsse der Spanier peitschten, und rollten über den steinigen Boden.
Dan O’Flynn stieß einen Fluch aus und stolperte. Hasard packte ihn am Arm und riß ihn wieder hoch. Die beiden waren die letzten, die in den Schutz des Dickichts tauchten.
Minuten später glitten sie lautlos durch den grünen Schatten.
Die einbrechende Dunkelheit schützte sie. Und die Spanier zeigten wenig Lust, die Verfolgung aufzunehmen. Ihre Stimmen klangen vom Lager herüber, aufgeregte Stimmen, und Hasard hätte jede Wette gehalten, daß das große Spektakel bestimmt nicht mit einem heldenhaften Beschluß enden würde.
Er behielt recht.
Niemand verfolgte sie.
Auf dem Rückweg zu ihrem Versteck hatten sie bereits Gelegenheit, ungestört über die neue Lage nachzudenken, und das waren reichlich düstere Gedanken.