Читать книгу Seewölfe Paket 5 - Roy Palmer - Страница 18
4.
ОглавлениеAuf dem Weg nach Cayenne war der Boston-Mann noch schweigsamer als sonst. Das lag an der Anwesenheit der verwandelten Frau an seiner Seite.
Siri-Tong war durchaus nicht schweigsam. Sie zischte Flüche und Verwünschungen. Ihrer Meinung nach war es heller Wahnsinn, ein Unternehmen wie diese Fahrt mit Planwagen und störrischen Maultieren über miserable Straßen in Rökken zu bewerkstelligen. Was, zum Teufel, machten diese Weiber mit ihren Röcken, wenn sie zum Beispiel auf einem Maultier reiten wollten? Oder beschränkten sie sich etwa darauf, im Wagen zu sitzen und sich spazierenfahren zu lassen?
Der Boston-Mann, an den diese Fragen gerichtet waren, zuckte nur mit den Schultern, und Siri-Tong schüttelte sich wütend die letzten Haarnadeln aus der Frisur.
Als sie Cayenne erreichten, gaben ihr die wirr auf die Schultern fallende Lockenflut und das düstere Rot der Seide schon wieder die wilde, ungebändigte Schönheit, die ihrem Wesen entsprach.
Männer drehten sich auf der Straße um. Bewundernde Blicke folgten der kleinen Karawane. Die spanischen Wachtposten kontrollierten nur flüchtig die Ladung. Einer der Soldaten trat mit glitzernden Augen an den Wagen heran.
„Meine Verehrung, Senorita! Sie müssen von weither angereist sein. Bestimmt wären Sie mir sonst schon einmal aufgefallen – eh …‘ Er verhaspelte sich nach diesem Ausbruch spanischer Grandezza und schluckte.
Siri-Tong lächelte hoheitsvoll. Unter normalen Umständen hätte sie diesem langen, dürren Typ mit dem traurigen Pferdegesicht nur soviel Aufmerksamkeit geschenkt, wie nötig gewesen wäre, um ihn aus dem Weg zu scheuchen. Aber jetzt waren die Umstände nicht normal. Der Mann gehörte zu den spanischen Soldaten, und Soldaten waren im allgemeinen gut informiert.
Die Rote Korsarin lächelte weiter.
„Ja, wir waren lange unterwegs“, bestätigte sie in perfektem Spanisch. „Jetzt suchen wir eine Herberge. Könnten Sie uns vielleicht einen Rat geben, Senor?“
Der Soldat schluckte den Köder so glatt wie einen Löffel Honig. „Aber gern, Senorita! In der ‚Reina de Cayenne‘ finden Sie alles, was Sie brauchen. Auch Vergnügen und Entspannung nach der langen Fahrt, Senorita.“ Er zeigte seine gelben, schadhaften Zähne und blinzelte vertraulich. „Es wäre mir eine Ehre, Sie und Ihren – eh, hmm …“
Sein Blick suchte den Boston-Mann, der hinter dem Wagen stand und den anderen Soldaten zusah. Siri-Tong dachte an das, was sie verabredet hatten: daß der Boston-Mann ihren eifersüchtigen Liebhaber spielen sollte, um einen Grund zu haben, sich in ihrer Nähe herumzutreiben.
„… Begleiter“, half sie dem stotternden Spanier auf die Sprünge. Dann gab sie sich innerlich einen Stoß, damit ihr die nächsten Worte glatt über die Lippen gingen. „Ich bin eine schwache Frau und auf Schutz angewiesen, Senor. Aber Sie – Sie können doch sicher nicht einfach Ihren Posten verlassen, oder?“
Der Spanier strahlte, was sein Pferdegesicht auch nicht schöner werden ließ. „Oh, ich bin hier nur zufällig vorbeigekommen. Mein Name ist Esteban Jerez. Ich tue sonst Dienst auf der Teufelsinsel.“
Siri-Tong überwand sich zu einem leichten Erzittern. „Wie schaurig!“
„Oh, es ist nur ein Name, Senorita. In den letzten Tagen war dort allerdings wirklich der Teufel los. Eine Meuterei gefangener Engländer! Wahre Bestien!“
Die Rote Korsarin hielt den Atem an.
Gefangene Engländer? Wahre Bestien, die es fertigbrachten, noch in der Gefangenschaft der Spanier den Teufel loszulassen? Siri-Tongs Herzschlag beschleunigte sich, sie fühlte die jähe Erregung bis in die Fingerspitzen, aber sie wußte, daß sie hier und jetzt nicht zu viele Fragen stellen durfte, wenn sie keinen Verdacht erreg en wollte.
„Ich wußte gleich, daß Sie ein Mann sind, der ein aufregendes Leben führte, Senor“, sagte sie. „Sie müssen mir von sich erzählen! Von Ihren Abenteuern, von der Teufelsinsel …“
Der spanische Soldat fühlte sich plötzlich, als schwebe er auf Wolken.
Nie hatte sich eine so traumhaft schöne Frau für ihn interessiert. Nie hatte irgend jemand an dem stumpfsinnigen Leben, das er führte, auch nur das Geringste aufregend gefunden. Er atmete tief durch, reckte die Schultern und begann, sich als Held zu fühlen.
„Mit dem größten Vergnügen, Senorita“, sagte er galant. „Ich bringe Sie und Ihren – eh, hmm – Begleiter zur Herberge. Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen.“
In der Nähe der Küste endete der Urwald so unvermittelt, daß er eine undurchdringliche schwarze Wand bildete.
Ein paar Felsen schoben sich terrassenförmig über den schmalen, im Mondlicht silbern schimmernden Strandstreifen, der die Bucht säumte. Die dünne Erdschicht bot nur Gestrüpp und jungen Palmen Nahrung. Wenn sie eine gewisse Höhe erreicht hatten, stürzten sie um und bildeten ein undurchdringliches Gewirr aus toten Stämmen. Zu beiden Seiten der Bucht stieß der Urwald keilförmig vor, als habe es die Natur darauf angelegt, hier einen Sichtschutz zu schaffen.
Die Seewölfe hatten Stunden gebraucht, um diesen Platz zu finden. Dan O’Flynns Idee war es gewesen. Wenn die Spanier ohnehin im Dschungel nach ihnen suchten, hatte er gemeint, könne man ja genausogut an die Küste zurückkehren.
Hasard war der gleichen Ansicht gewesen. Vor allem, da ihm durch das belauschte Gespräch im Camp der Spanier klargeworden war, daß sie nicht mehr lange zögern durften, wenn sie etwas unternehmen wollten, um sich die „Isabella“ zurückzuholen.
Es würde hart auf hart gehen und ein wahres Höllenkommando werden: ein Höllenkommando, über dessen genauen Ablauf nicht einmal der Seewolf irgendeine Vorstellung hatte.
Fest stand, daß die Männer dringend eine ungestörte Nacht brauchten, eine Nacht ohne Insekten, Schlangen, Kaimane und dampfende Urwald-Schwüle. Hier in dieser winzigen, geschützten Bucht waren sie vorerst sicher. Es sei denn, daß sich eine spanische Galeone den Platz als Ankergrund aussuchte, dachte Hasard grimmig. Die konnten sie dann vielleicht entern und dazu benutzen, die „Isabella“ wieder zu besetzen.
Wunschträume!
Für eine spanische Galeone gab es nicht den geringsten Grund, eine einsame Bucht anzulaufen, statt den Hafen von Cayenne. Hasard kniff die Augen zusammen und suchte den Horizont ab, einen dunklen, verschwommenen Horizont, verborgen hinter nebligem Mondlicht. Dabei war der Himmel klar. Wie Brillanten auf schwarzem Samt glitzerten die Sterne, spiegelten sich im Wasser und brachen sich zu funkelnden Lichtpfeilen. Nur dort draußen, dieser seltsame Dunst. Wolken? Ja, es mußten Wolken sein, die über dem Horizont die Sterne verbargen. Wolken, die am Tag vermutlich dünn und gelblich ausgesehen hätten.
Hasard furchte die Stirn und sog witternd die Luft ein. Das Wetter in diesem Teil der Welt war ihm nicht mehr fremd, seit er damals unter Kapitän Drake schon einmal Kap Horn gerundet hatte. Er spürte, daß sich da etwas zusammenbraute und ein Wetterumschwung bevorstand. Seine Haltung hatte sich gespannt, als Ben Brighton, Ferris Tucker und Ed Carberry neben ihn traten.
Auch sie starrten nach Osten und wußten diese seltsamen Dunstgebilde richtig zu deuten – mit dem Instinkt der erfahrenen, von allen Salzwassern der Meere getränkten Seefahrer.
Ben Brighton rieb sich mit dem Handrücken über die wuchernden Bartstoppeln in seinem Gesicht. Ed Carberry kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und schob sein Rammkinn vor.
„Verdammt!“ sagte er. „Wenn das keinen Sturm gibt, ziehe ich mir selbst die Haut ab!“
„Von deinem verdammten Affenarsch?“ fragte Dan O’Flynn aus dem Hintergrund vorwitzig.
„Ha! Willst du frech werden, du Rübenschwein? Soll ich dir mal einen Zierknoten in den Hals drehen?“
„Still!“ mahnte Hasard.
Der Profos senkte die Stimme. „Von diesem nachgemachten Hering laß ich mich doch nicht verarschen!“ zischelte er empört.
„Es sieht wirklich nach Sturm aus“, sagte Ben Brighton nachdenklich. „Nach einem saftigen Sturm! Wenn in dieser Gegend das Wetter erst einmal umschlägt …“
Er sprach nicht weiter. Inzwischen waren auch die anderen Seewölfe herangekommen, und Dan schlug wohlweislich einen Bogen um den wütenden Profos.
„Mist“, murmelte Stenmark. „Wenn wir tatsächlich Sturm kriegen, und das Wetter erwischt die ‚Isabella‘ auf der Untiefe …“
Auch er ließ das Ende seines Satzes in der Luft hängen. Er brauchte auch gar nicht weiterzusprechen. Denn auch der letzte der Männer wußte, daß die „Isabella“ verloren war, wenn sie dort, wo sie jetzt unverrückbar festsaß, in einen schweren Sturm geriet.
„Kkkrrch!“ stieß Batuti hervor. Womit er wohl das Geräusch von brechenden Spanten und wegknikkenden Masten andeuten wollte. „Müssen machen Spanier kaputt, bevor Sturm ‚Isabella‘ kaputtmacht! Köpfe einschlagen! Krach, bumm!“
„Krach, bumm!“ höhnte Stenmark erbittert. „Und dann den Sand unter dem Kiel mit Schaufeln wegbuddeln, was?“
Batuti tippte mit dem Zeigefinger an seine schwarze Stirn. „Nix buddeln! Du blöd im Schädel! Sturm macht vielleicht Wasser unter Kiel von altes ‚Isabella‘. Klar?“
Hasard hatte gerade das gleiche sagen wollen, wenn auch in etwas anderen Worten. Jetzt grinste er über die sprachlosen Gesichter, mit denen seine Männer den riesigen Gambia-Neger anstarrten. Stenmark sah reichlich verdattert aus. Blacky und Smoky seufzten andächtig. Und Donegal Daniel O’Flynn junior stieß einen schrillen Pfiff aus und hüpfte hoch, um Batuti mit Schwung auf die Schultern klopfen zu können.
„Nix buddeln!“ Dans Stimme überschlug sich fast. „Sturm macht Wasser unter Kiel von altes „Isabella‘! Ha! Altes ‚Isabella‘ vielleicht freikommen und …“
„Jetzt ist er ganz übergeschnappt“, brummte der alte O’Flynn.
Dan ließ sich nicht stören. Seine Augen funkelten, als er Hasard ansah. „Batuti hat recht! Er hat sogar verdammt recht! Wenn der Sturm das Wasser steigen läßt, könnte die Isabella freikommen. Wir brauchen nur noch an Bord zu gehen! Es ist die Einfachheit selber!“
„Sicher“, sagte Hasard trocken. „Wir gehen an Bord, warten auf den Sturm, der vielleicht heute, vielleicht morgen oder vielleicht gar nicht einsetzt, und halten uns inzwischen die Dons vom Leibe. Die Einfachheit selber!“
Dan schluckte. Diesmal fehlte selbst ihm die passende Erwiderung. Und in den Gesichtern der Seewölfe, über die eben noch ein Aufleuchten der Erleichterung geglitten war, malte sich die Erkenntnis, daß die Sache nicht die Einfachheit selber war, sondern im Gegenteil ein äußerst kritisches und riskantes Unternehmen.
Hasard faßte die Schwierigkeiten mit leidenschaftsloser Stimme zusammen.
„Es gibt nur eine einzige Chance für uns, und zwar die, bereits an Bord der ‚Isabella‘ zu sein, wenn der Sturm losbricht. Da wir diesen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit voraussagen können, werden wir bei Nacht und Nebel an Bord gehen müssen, lautlos die Wachen ausschalten, uns verstecken und auf irgendeine Weise die Dons über die wahren Verhältnisse täuschen. Da uns das nur für eine gewisse Zeit gelingen kann, müssen wir unter Umständen auch noch kämpfen. Wenn der Sturm ganz ausbleibt, was ohne weiteres möglich ist, haben wir keine Chance mehr. Wenn die Spanier uns vorzeitig entdecken, können wir nur noch beten, daß die Schiffe, die sie angefordert haben, nicht schneller als der Sturm da sind. Dann können sie uns nämlich in aller Ruhe in Fetzen schießen. Dazu ist es nicht einmal nötig, daß wir außergewöhnliches Pech haben. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Spanier uns schnappen, es sei denn, daß wir unverschämtes Glück haben.“
Für einen Moment blieb es still.
Ferris Tucker fuhr sich mit allen fünf Fingern durch sein rotes Haar. Bill, der Schiffsjunge, sah mit leuchtenden Augen von einem zum anderen. Er hatte noch die ganze Bedenkenlosigkeit des halbwüchsigen Jungen. Die „Isabella“ unter den Augen der verhaßten Dons im Sturm zu entführen, das war ein Abenteuer ganz nach seinem Geschmack. Daß es zur Katastrophe geraten konnte, darüber dachte er im voraus nicht viel nach.
Flüchtig glitt Hasards Blick über das Gesicht des Jungen, und er stellte fest, daß Bill immer mehr dem vorwitzigen, tatendurstigen Bürschchen zu gleichen begann, das Dan O’Flynn vor ein paar Jahren gewesen war.
Die anderen dagegen nahmen die Dinge nicht so leicht. Sie wußten, daß es Dummheit gewesen wäre, sie leicht zu nehmen. Ed Carberry schob sein Rammkinn vor und knirschte mit den Zähnen.
„Noch einmal ergebe ich mich den Dons nicht freiwillig, das schwöre ich!“ stieß er hervor. „Ein zweites Mal legen die mir kein Eisen an, nicht, solange ich lebe. Aber bevor ich abkratze, wird es noch eine Menge von diesen verlausten spanischen Affenärschen erwischen“, fügte er hinzu, als versuche er noch im Nachhinein, seinen Worten etwas von ihrem düsteren Ernst zu nehmen.
Hasard nickte nur.
Nein, ein zweites Mal würden sie sich nicht ergeben, und wenn noch so viele spanische Schiffe ihre Stückpforten öffneten, um die manövrierunfähige „Isabella“ in Fetzen zu schießen. Sie würden sich schon deshalb nicht ergeben, weil es ganz sicher keine zweite Chance gab, von der Teufelsinsel zu entkommen. Ganz davon abgesehen, daß die Spanier diesmal bestimmt kurzen Prozeß mit ihnen machen würden.
Der Seewolf preßte die Lippen zusammen und sah von einem zum anderen.
„Wir haben die Wahl“, sagte er. „Entweder das Unmögliche versuchen – oder die ‚Isabella‘ aufgeben und gegen eine bessere Überlebenschance eintauschen. Es ist eine Entscheidung, die ich nicht allein treffen kann und will. Also?“
Ein kurzes Schweigen entstand. Hasards eigene Meinung stand längst fest. Aber er wußte, wenn er sie gesagt hätte, wäre die Crew sofort wie ein Mann hinter ihm gewesen. Und das wollte er nicht, nicht in dieser Sache, bei der sie dem Teufel nicht nur den Schwanz langziehen, sondern ihm geradewegs ins Maul greifen würden.
„Die ‚Isabella‘ aufgeben?“ fragte Dan ungläubig. „Bist du verrückt geworden – ich meine, ist das dein Ernst?“
„Unfug!“ brummte Stenmark.
„So’n Blödsinn!“ sagte Matt Davies.
„Wir geben doch die ‚Isabella‘ nicht auf! Nie!“
„Batuti nix dumm im Kopf. Batuti nicht weg von ‚Isabella‘.“
„Ben?“ fragte Hasard ernst.
Der Bootsmann preßte die Lippen zusammen. Er war von all diesen Männern vielleicht der Besonnenste, derjenige, der auch schon einmal zur Vorsicht riet, zum Nachgeben, statt zum Drauflosstürmen. Aber jetzt hatte er die Hände geballt, und auch in seinem Gesicht stand eiserne Entschlossenheit.
„Sollen wir das beste Schiff, das je in England gebaut wurde, den Spaniern schenken?“ fragte er. „Sollen wir zulassen, daß sich die Geschütze der ‚Isabella‘ vielleicht demnächst auf unsere Landsleute richten? Und daß morgen in Cayenne erzählt wird, wir hätten uns in den Urwald verkrochen, wie – wie …“
„… wie eine Bande verdammter, verlauster Affen“, vollendete Carberry treffsicher. „Nein. Wir holen uns die ‚Isabella‘ zurück. Oder ist etwa jemand anderer Meinung?“
Es war deutlich zu sehen, daß niemand anderer Meinung war. Hasard hob rasch die Hand, um zu verhindern, daß die Crew in einen donnernden Schlachtruf ausbrach. Das Ergebnis war, daß Bill und Dan im Duett ihr „Arwenack“ schmetterten. Laut genug war es immer noch, und für einen Moment löste sich die Spannung in gedämpftem und dennoch befreiendem Gelächter.
Hasard warf das lange schwarze Haar zurück. Seine Augen schimmerten wie blaues Eis im Mondlicht.
„Gut“, sagte er ruhig. „Und jetzt zum praktischen Teil der Angelegenheit. Wir werden nicht mit dem einen Boot auskommen, das wir haben. Wir brauchen weitere Boote, Vorräte, Frischwasser, nach Möglichkeit noch ein paar Waffen.“
Es dauerte nicht mehr lange, bis auch die Einzelheiten geklärt waren.
Hasard hatte bei dem heimlichen Besuch an Bord der „Isabella“ einen Beutel Perlen aus dem gut getarnten Schatzversteck geholt. Und es gab Fischer an der Küste von Guayana, Indios, die auf die Spanier alles andere als gut zu sprechen waren. Es mußte gelingen, irgendwo Perlen gegen die benötigten Boote und Ausrüstungsgegenstände einzutauschen.
Ben Brighton stellte einen Trupp zusammen.
Gleich am frühen Morgen sollten sie aufbrechen. Frühestens in der folgenden Nacht, nach Einbruch der Dunkelheit, konnten sie dann ihr verwegenes Unternehmen starten. Bis dahin würde das Warten das Schlimmste sein.
Um dieselbe Zeit war die Rote Korsarin nahe daran, zu dem Dolch zu greifen, den sie unter dem Rock trug.
Sie schäumte vor Wut. Ihre eigene Idee war es gewesen, den verräucherten Schankraum der Herberge mit der frischeren Nachtluft zu vertauschen. Aber sie hatte dabei vergessen, daß sie hier nicht die Rote Korsarin war, sondern als Geliebte oder Partnerin eines hergelaufenen Händlers galt, auf jeden Fall als leichtsinniges Frauenzimmer. Oder nicht einmal das! Denn Frauen dieses Schlages verstanden sich zu wehren, bei denen hätte sich ein schmieriger Kerl wie dieser Esteban Jerez bestimmt nicht so aufgeplustert, ohne binnen einer Viertelstunde auf sein mickriges Maß zurechtgestutzt zu werden.
Aber Siri-Tong hatte sich nun einmal bei der ersten Begegnung auf die Rolle der schwachen Frau festgelegt, und jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen angetrunkenen, pferdegesichtigen Widerling anzuhimmeln.
Immerhin, sie hatte schon einiges von ihm erfahren.
Sie wußte inzwischen, daß die „Isabella“ auf einer Untiefe festsaß und der Seewolf und seine Männer von der Teufelsinsel geflohen waren und sogar noch mit einer unheimlichen, den Spaniern unbekannten Waffe zwei Galeonen zu den Fischen geschickt hatten.
In den Schilderungen des Soldaten nahmen die Seewölfe die Dimension blutgieriger, unbezwinglicher Teufel an. Es schien ihn sehr zu befriedigen, daß diese Bande von Teufeln vor ihrer Flucht noch eine bittere Lektion hatte schlucken müssen.
Mit sichtlichem Vergnügen berichtete er über die Auspeitschungen, Schikanen und sadistischen Quälereien. Siri-Tong erstickte fast an dem Wunsch, sich den Dolch zu schnappen und diesen widerlichen Kerl scheibchenweise zu verhackstücken.
Statt dessen bemühte sie sich geduldig, ihn weiter auszuhorchen, duldete seinen Arm um ihre Taille, ohne ihm die Augen auszukratzen und beschränkte sich auf geziertes Zurückweichen, als er sich erdreistete, ihr Ohrläppchen zu küssen. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, wohin die Seewölfe geflohen waren, und der Soldat wußte auch nicht genau, warum die „Isabella“ festsaß und wie man sie wieder flottkriegen konnte. Aber er hatte die Möglichkeit, das alles herauszufinden, und Siri-Tong mußte ihn irgendwie dazu bewegen, es für sie zu tun.
Die richtige Idee fiel ihr ein, als es Esteban nunmehr danach gelüstete, zum Nahkampf überzugehen.
Ungeschickt zog er sie an sich, seine Hände betatschten ihren Rücken. Alkoholdunst schlug ihr entgegen, als er sich zu ihr beugte.
„Zur Hölle mit diesem verdammten Seewolf“, flüsterte er. „Was interessierst du dich für diesen Kerl, Täubchen, wenn du mich hast?“
„Seewolf?“ fragte Siri-Tong. „Hast du Seewolf gesagt?“
„Klar“, brummte er, wobei er sie auf den Mund küssen wollte und ihren Hals traf, als sie den Kopf abwendete. Auch das gefiel ihm. Seine Lippen wanderten, und Siri-Tong dachte angestrengt daran, daß sie keine Wahl hatte, wenn sie dem Seewolf helfen wollte.
„Oh“, seufzte sie. „Und was geschieht jetzt mit all den Schätzen, den Perlen und Edelsteinen?“
Esteban löste schwer atmend seine feuchten Lippen von Siri-Tongs Hals. Er hatte sich noch nicht so weit vergessen, daß Worte wie Schätze, Perlen und Edelsteine an seinen Ohren vorbeigegangen wären.
„Hä?“ fragte er verständnislos.
„Aber jeder weiß doch, daß das Schiff dieses – dieses sogenannten Seewolfs alle möglichen Schätze enthält!“ Siri-Tong seufzte wieder. Es fiel ihr unendlich schwer, angesichts dieses häßlichen, gierigen Pferdegesichts einen träumerischen Ausdruck in ihre Augen zu zwingen, aber sie schaffte es. „Perlen, Edelsteine! Wenn wir auch nur einen Bruchteil davon hätten, wären wir alle Sorgen los. Und das alles wird jetzt nach Spanien geschickt, wo sie sowieso schon genug davon haben.“
Esteban schluckte verblüfft. „Aber – aber von dem Zeugs ist doch überhaupt nichts gefunden worden“, stammelte er.
„Nicht? Willst du sagen, all die Schätze liegen immer noch im Bauch eines gestrandeten Schiffs? Einfach so? Unbewacht?“
„Unbewacht nicht gerade. Das heißt, ich weiß es nicht genau. Ein paar Leute werden sicher aufpassen.“
„Ach, Esteban! Laß uns ein Stück im Mondschein spazierengehen, bitte!“
„Hm, wenn du meinst.“
Siri-Tong nickte, lächelte und hängte sich bei ihm ein. Solange sie in dieser Haltung durch die nächtlichen Straßen schlenderten, konnte der Spanier sie wenigstens nicht betatschen. Offenbar war er jetzt zu der Ansicht gelangt, daß er eine Frau vor sich hatte, bei der man erst ein bißchen turteln mußte, ehe man aktiv werden konnte. Esteban versuchte verzweifelt, galant zu plaudern, und Siri-Tong lenkte sein Interesse geschickt immer wieder auf die Schätze an Bord der „Isabella“.
Wenn sie ihn dazu bringen konnte, den Köder zu schlucken, würde er gar nicht anders können, als auf eigene Faust Ermittlungen über die „Isabella“ anzustellen. Nach einer halben Stunde hatte sie ihm so eingeheizt, daß er tatsächlich glaubte, er brauche nur noch die Hand auszustrecken, um unermeßlich reich zu werden. In seiner Phantasie wälzte er sich bereits mit Siri-Tong im Lotterbett eines Palastes. Er hing begierig an ihren Lippen, als sie ihm auseinandersetzte, was er noch alles in Erfahrung bringen müsse, damit man an die Verwirklichung des Plans gehen könne.
Der Spanier nickte nur.
Dann griff er mit beiden Händen nach Siri-Tongs Körper, entschlossen, einen Vorgeschmack der herrlichen Zeiten zu genießen, denen er entgegensah, aber genau in diesem Moment trat der Boston-Mann auf den Plan.
Er hatte die Rote Korsarin keine Sekunde aus den Augen gelassen. Jetzt zog er sich ein Stück in die Schwärze einer Gasse zurück und begann, den Namen zu rufen, den sie benutzte.
„Juanita! Juanita, du verdammte Hure! Wenn du mich betrogen hast, schieße ich dich mitsamt deinem Kerl über den Haufen. Juanita! Juanita, du Miststück!“
Die Wut, die in Siri-Tongs Augen aufblitzte, war durchaus nicht gespielt. Tarnung hin oder her, es blieb eine Unverschämtheit, sie „Miststück“ und „verdammte Hure“ zu nennen.
„Schnell weg!“ flüsterte sie. „Wir treffen uns morgen mittag an derselben Stelle, einverstanden?“
„Aber …“
„Der Kerl ist fähig und schießt uns wirklich über den Haufen. Ich will nicht, daß er unsere Pläne stört, verstehst du? Ich muß verschwinden!“
Noch einmal nahm sie ihre ganze Beherrschung zusammen und überwand sich dazu, sich mit einem Kuß zu verabschieden, einem langen, leidenschaftlichen Kuß, der sich dem Kerl ins Gedächtnis brennen und ihn bei der Stange halten sollte, auch wenn der Alkoholnebel in seinem Hirn verflogen war. Siri-Tong legte sich mächtig ins Zeug und ließ einen atemlosen, halb betäubten Esteban Jerez zurück, als sie sich von ihm löste und in die Dunkelheit der Gasse hastete.
Erst als sie außer Hörweite war, machte sie ihren wahren Gefühlen Luft – mit einem Wort, das eine schwache Frau ganz sicher nicht einmal gekannt hätte!