Читать книгу Seewölfe Paket 5 - Roy Palmer - Страница 8
4.
ОглавлениеSie gelangten nur langsam vorwärts.
Ein umgestürzter Urwaldriese, der den Weg versperrte, nötigte sie zu weiten Umwegen. Es schien, als nehme die Vegetation noch an Üppigkeit zu. Manchmal ruderten sie durch ein Meer von Pflanzen und vergaßen unter dem dunklen Laubdach, wie der Himmel aussah.
Sie legten eine Pause ein.
Wer in der Nacht die vielen Tierstimmen gehört hatte, wunderte sich, daß am hellichten Tage nichts zu entdecken war. Der Dschungel schien wie ausgestorben und zeigte kein Leben. Und doch wimmelte es in den hohen Baumkronen von gefiederten und pelzigen Tieren, die aufmerksam die Störenfriede beobachteten. Aber hier gab es tausend Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Höchstens eine Bewegung der Zweige verriet manchmal, daß ein Lebewesen unbemerkt bei Annäherung der Menschen das Weite gesucht hatte. Oder ein Papagei protestierte mit lautem Kreischen.
Es war eine höllische Gegend. Daran änderten auch die unzähligen Blütenkelche der Orchideen nichts, die wie kostbare Steine im unendlichen Grün des Dschungels prangten.
Die Seewölfe waren heilfroh, daß sie die Hände frei hatten. Jetzt konnten sie wenigstens einen verzweifelten Kampf gegen die Plagegeister der Tropen führen, die Moskitos. Die Insekten blieben zwar stets Sieger und gelangten immer ans Ziel, aber wenn man sich hin und wieder klatschend auf den eigenen Körper schlagen konnte, brachte es einem wenigstens die Genugtuung, etwas getan zu haben. Auch wenn für jede getötete Stechmücke tausend neue anflogen. Ihr helles Sirren war manchmal der einzige Ton, der die Stille unterbrach. Es war ein nervenzerfetzendes Geräusch.
Gegen Mittag rasteten sie.
Erschöpft lagerten die Männer um Hasard im Dickicht. Langsam wurde der Hunger unerträglich.
Jetzt, da das Brechen der Zweige und der Axtschlag dessen, der der Kolonne den Weg bahnte, verstummt waren, ertönte das stete Summen der Moskitos noch aufdringlicher. Es wurde erst überlagert, als in der Ferne Trommeln erklangen – eine Spur deutlicher als in der Nacht, aber noch zu weit, als daß die Seewölfe sich ernsthaft damit befaßten.
Nur Smoky reagierte wieder heftig.
Er preßte die Hände auf die Ohren, um dieses Geräusch nicht mehr hören zu müssen, zumal der Schlagwirbel sein Blut mindestens ebenso in Wallung brachte wie das Fieber, das ihn quälte. Er litt am stärksten unter dem Mangel an Trinkwasser.
Noch konnte sich niemand entschließen, aus den Schlammpfützen zu trinken, die am Fuße der Bäume sich ausdehnten, grün und eklig, mit einer Schicht Entengrütze bedeckt und von faulendem Holz verunreinigt.
Der einzige, der seinen Mut hochhielt und dem der beschwerliche Marsch durch den Dschungel wie ein Spaziergang erschien, war Bill, der schmächtige Schiffsjunge.
Der dunkelhaarige, schlanke Bursche legte die gleiche Strecke wie die anderen mehrmals zurück. Denn einmal fesselte ihn ein riesiger blauer Schmetterling, der im Sonnenschein über eine Wiese taumelte. Dann blieb er stehen, blieb zurück und holte die Gefährten im Laufschritt wieder ein. Oder er stromerte weit vor der Kolonne herum und fand immer wieder einen Durchschlupf, wo Erwachsene aufgesteckt hätten. Oder er begleitete die Gruppe, ein paar hundert Yards entfernt, indem er sich parallel zu den anderen bewegte und erst nach Stunden wieder auftauchte, voller neuer Eindrücke.
Als die Seewölfe rasteten, war es Bill, der sich keine Ruhe gönnte. Der Zufall wollte es, daß er eine Horde Brüllaffen entdeckt hatte. Er setzte den Tieren nach, taub gegen Warnungen.
Was ihm schließlich widerfuhr, bestand nicht in einer naheliegenden Gefahr, etwa dem Auftauchen eines Jaguars oder der Begegnung mit einer Anakonda. Nein, er geriet an einen Fluß und blieb verblüfft stehen: im Uferschlamm steckte ein Ruderboot fest, offenbar schwer beschädigt und manövrierunfähig. Es gab keine Ruder mehr.
Dieser Anblick allein hätte Bill wohl kaum aus der Ruhe gebracht. Was ihn zu Tode erschreckte, war der Mann, der verzweifelt und stumpf in der Plicht hockte: El Verdugo, der spanische Henker.
Die Strömung mußte ihn abgetrieben haben. Wahrscheinlich hatte er als einziger das Desaster in der kochenden See und die Kenterung überlebt. Der Sturm hatte ihn ebenso an die Küste verschlagen wie die Männer, die er verfolgt hatte.
Jetzt zerbrach er sich wohl gerade den Kopf darüber, wie er ohne Riemen die Teufelsinsel wieder erreichen konnte – jedenfalls bis zu dem Augenblick, da Bill auftauchte.
Spätestens das Halseisen der Spanier verriet den Schiffsjungen als Sträfling, wenn sich El Verdugo nicht außerdem an dieses Gesicht erinnerte.
Er vergaß aber nie jemanden, der mal unter seiner Fuchtel gestanden hatte. Und an Bill erinnerte er sich am deutlichsten, weil es ihm nicht gelungen war, trotz aller Torturen und Schikanen, dieses schmächtige Bürschlein in die Knie zu zwingen. Der war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Kapitän, dieser Philip Hasard Killigrew. Wenn er erst einmal älter war und die gleiche Menge an Erfahrungen gesammelt hatte, mußte aus ihm etwas werden, womöglich ein ebenso erbitterter Gegner der Spanier. Und das galt es zu verhindern.
El Verdugo hatte sich stets darauf verstanden, seinen Trieben nachzugeben, ihnen aber gleichzeitig einen höheren Sinn zu verleihen und ein Deckmäntelchen umzuhängen.
Wenn er Bill gequält hatte, dann eben nur, um zu verhindern, daß Spanien ein neuer und furchtbarer Gegner erwuchs.
Und jetzt mußte er sehen, daß der Kerl keine Ketten mehr trug – von dem eisernen Halsring abgesehen – und vergnügt im Dschungel herumlief wie auf einer Schmetterlingsjagd.
El Verdugo ging davon aus, daß Bill ebenso ans Festland versprengt worden war wie er selbst. Er rechnete damit, daß das Bürschchen sich hier allein herumtrieb, eine leichte Beute.
Der Totenschädel mit den tief eingesunkenen Augen und dem grausamen Tatarenbart verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. El Verdugo sprang auf und kletterte aus dem Bootswrack.
Er schwang eine blitzende Machete.
Natürlich gab Bill Fersengeld.
Die bedrohliche Bewegung des anderen erlöste ihn selbst aus seiner Starre. Der Schreck pulsierte durch seinen schmächtigen Körper. Die Beine setzten sich fast automatisch in Bewegung.
Bill ließ die Zweige zusammenschnellen. Er rannte in der ersten Bestürzung kopflos davon. Und prompt verfing er sich in einer tief herunterhängenden Liane, die seine Flucht für wertvolle Minuten stoppte.
Da brach bereits der verhaßte Spanier durch das Buschwerk. Zwar sah El Verdugo, der Henker, den Jungen nicht, hörte ihn aber in seiner Falle zappeln. Er hackte sich durch den Dschungel.
El Verdugo keuchte. Der Schweiß rann ihm in Bächen über den Körper.
Wild blickte er um sich. Dann erkannte er die Zwangslage, in der Bill steckte und genoß dessen verzweifelte Bemühungen, sich aus dem Fallstrick zu lösen.
„So, mein Junge“, sagte der Henker grinsend. „Dich hätten wir.“
In letzter Sekunde kam Bill frei und sprang auf. Er schoß davon, so schnell ihn seine Füße trugen.
Mit einem Wutschrei folgte ihm der Spanier.
Zunächst war Bill einfach davongerannt, ohne zu überlegen, wohin, nur fort aus der Nähe dieses grausamen Spaniers.
Jetzt, als er sich durch das Unterholz arbeitete, spürte er zum erstenmal die tödliche Einsamkeit. Er ruderte durch das Grün und verhedderte sich immer wieder.
Mit Mühe hielt er seinen geringen Vorsprung. Was sich El Verdugo an Bewegungsspielraum mit wuchtigen Machetenhieben schuf, glich Bill durch größere Wendigkeit aus.
Bill war durch eine harte Schule gegangen. Man hatte ihm nichts geschenkt. Aber dies hier war etwas anderes. Der Boden war schlüpfrig. Einen Pfad oder Weg gab es nicht.
Zweige und Blätter peitschten seinen halbnackten Körper. Die Luft, unerträglich schwül, stach in den Lungen. Sein Atem ging rasselnd.
Nur mühsam orientierte er sich.
Er widerstand der Versuchung, um Hilfe zu rufen. Das hätte den Henker nur gewarnt. Sollte er doch annehmen, daß er einen einsamen Jungen verfolgte. Die Überraschung würde für ihn um so vernichtender ausfallen.
Bill hatte noch immer höllische Angst vor dem Leuteschinder, aber je länger er die Jagd aushielt, desto sicherer wurde er, daß die Verfolgung für ihn nicht unangenehm enden würde.
El Verdugo bewies eine erstaunliche Kondition. Wahrscheinlich lebte er schon so lange in diesem Klima, daß er sich fast daran gewöhnt hatte.
Mochte ihm der Schweiß auch die Augen verkleistern, die Luft wie tausend Nadeln in seinen Lungen stechen und der Wunsch, sich auszuruhen, übermächtig werden – er gab nicht auf.
Nach enttäuschender Jagd auf die entflohenen Kettensträflinge endlich ein erster Silberstreif am Horizont! Es war sehr wohl ein Unterschied, ob man mit leeren Händen vor den Kommandanten trat oder wenigstens einen Gefangenen vorweisen konnte. Es war ein Zeichen, daß man sich nicht geschont hatte, ein winziger Erfolg – aber immerhin.
El Verdugo verdoppelte seine Anstrengungen. Er hatte noch etwas zuzusetzen und holte auf.
„Bleib stehen, oder ich spalte dir den Schädel!“ keuchte der Henker und holte mit der blitzenden Machete aus.
„Meinst du mich?“ fragte Big Old Shane grollend, trat aus dem Hinterhalt, fing blitzschnell die Messerhand des verhaßten Spaniers ab und hielt eisern fest.
Vergeblich stemmte sich El Verdugo gegen die Kraft des früheren Waffenmeisters von Arwenack. Old Shane verzog keine Miene.
Aus den Verstecken ringsum tauchten weitere Seewölfe auf. Sie bildeten einen Kreis. Höhnische Zurufe wurden laut, aber auch Verwünschungen.
Beim Anblick dieses Mannes kochte jedem das Blut, der einmal unter seiner Peitsche Fronarbeit geleistet hatte.
Schlimme Erinnerungen wurden wach. Kaum verheilte Wunden rissen wieder auf. Ausgerechnet der Henker mußte sie aufspüren! War er allein, oder leitete er eine neue Suchexpedition der Spanier? Fragen wurden laut.
Bill, der seine Flucht jäh beendet hatte, kehrte um und konnte seine Gefährten beruhigen.
„Er saß in einem Boot am Fluß“, berichtete er.
„Was soll das heißen? Muß ich dir erst die Würmer einzeln aus der Nase ziehen?“ grollte der Profos und hob bereits die Pranke, um dem Benjamin eine Kopfnuß zu verpassen, ganz so, als hätten sie bereits die Planken der „Isabella“ wieder unter den Füßen und befänden sich auf offener See.
„Laß ihn!“ rief Hasard und trat zu den beiden.
Er nahm Bill ins Verhör. Bill mußte ihm sogar den kürzesten Weg zum Fluß beschreiben.
Indes bezwang Old Shane mit Leichtigkeit den Spanier. Die Machete entglitt seiner Hand, die sich, völlig verdreht und unter ungeheurem Druck, zitternd öffnete. Das Buschmesser fiel senkrecht nach unten und blieb vibrierend im Morastboden stecken.
Aus angstgeweiteten Augen starrte El Verdugo auf seinen Bezwinger, dessen Gesicht ihm nichts verriet.
El Verdugo ging automatisch davon aus, daß die Seewölfe so mit ihm umsprangen, wie er es zuvor mit ihnen getrieben hatte. Er zitterte vor dem Gedanken an die Rache seiner Opfer.
Er befand sich in ihrer Gewalt, keine Rettung weit und breit.
Tatsächlich bestätigten die nächsten Szenen die finstere Ahnung des Scheusals. Old Shane trieb ein rauhes Spielchen mit dem Spanier.
„Was krebst du eigentlich hier herum?“ fragte er.
Gleichzeitig schlug er ihm die Faust dröhnend vor den Brustkorb.
El Verdugo taumelte zurück.
Die Seewölfe, die sich blitzschnell zu einem Kreis formiert hatten, fingen ihn auf. Er empfing den nächsten Schlag.
So flog er ständig in dem Kreis herum. Der erste Schlag warf ihn gegen die lebende Mauer, die ihn mit gleicher Härte zurückkatapultierte. Das Spiel ging weiter.
Dabei tobten und schrien die Seewölfe. Sonst wären sie an dem Haß erstickt, der sie beseelte, seit der Anblick des Henkers all die Leiden wieder heraufbeschworen hatte, die ihnen in den vergangenen Tagen widerfahren waren.
Ihre ganze elende Lage zwang sie dazu, sich an dem Henker abzureagieren.
Nun wäre Hasard der letzte gewesen, der seinen Männern den Spaß verdorben hätte. Denn sie kannten ihre Grenzen. Eine Tracht Prügel, bezogen von rauhen Seemannsfäusten, konnten den Henker nicht gleich ins Jenseits befördern. Mochte er doch einmal am eigenen Leib spüren, was Schmerzen bedeuteten.
Aber da war Luke Morgan.
Von El Verdugo bis aufs Blut gepeinigt, schoß ihm nur ein Gedanke durch den Schädel: Tod dem verdammten Hund!
Er beteiligte sich nicht an dem Spielchen, das er für kindisch hielt. Er wollte mehr: das Leben El Verdugos.
Mechanisch fuhr seine Hand zu dem Messer, das in seinem Gürtel steckte. Kaum hatte er das Heft in der Hand, da setzte er sich auch schon in Bewegung. Er schlüpfte zwischen dem Profos und Big Old Shane durch und wollte sich auf den Spanier stürzen.
El Verdugo ging zitternd in die Knie. Abwehrend hob er die Hände. Seine Lippen zitterten. Er war nicht mehr fähig, sich selbst zu verteidigen.
Andererseits standen die übrigen Seewölfe wie erstarrt. Mit dieser Wendung hatten sie nicht gerechnet. Es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, den Henker etwa zu erstechen oder zu erwürgen. Sie waren keine Mörder.
Wenn ihm einer der mächtigen Hiebe Old Shanes oder des Profos‘ das Genick gebrochen hätte – niemand hätte es ernstlich bedauert.
Aber das hier war nackter Mord.
Wenn sich trotzdem niemand rührte, dann erstens aus Überraschung, daß der rauhe Zeitvertreib plötzlich in bitteren Ernst umgeschlagen war, und zweitens, weil keiner sich berufen fühlte, den Henker zu verteidigen. Wenn Luke Morgan sich nicht mehr beherrschen konnte, wen ging das etwas an? Ausgenommen natürlich Luke. Aber er mußte die Verantwortung tragen.
Hasard war es, der reagierte.
Er sprang in den Kreis, in dessen Mitte Luke Morgan gerade mit der Linken den Haarschopf des Henkers gepackt hatte und ihm den Kopf nach hinten riß, um ihm das Messer durch die Kehle zu ziehen.
„Genug!“ donnerte Hasard.
Luke Morgan hielt inne, als er die gewohnte Kommandostimme hörte. Er zögerte. Doch sein ungeheurer Haß auf den Schinder siegte.
Der untersetzte Engländer mit der Narbe im Gesicht nahm einen neuen Anlauf. Er war weiß um die Nase und zitterte vor Wut. Nicht mehr Herr seiner Sinne, wollte er El Verdugo erledigen.
Hasard kannte seine Pappenheimer.
Morgan war ein Pfundskerl, bisweilen sogar ausgesprochen pfiffig und hatte jenen trockenen britischen Humor, der so beneidenswert war. Aber er hatte auch einen schwerwiegenden Fehler, nämlich ein heißes und jähzorniges Temperament. Bisweilen ließ er sich von den Gefühlen hinreißen. Und diesmal beherrschte ihn unbändige Wut.
Hasard kannte für solche Fälle ein gutes Rezept. Das war ein wuchtiger Tritt gegen die Messerhand des unbeherrschten Mannes. Morgan starrte auf seine leere Faust, während seine Waffe durch die Luft segelte und irgendwo im Grün des Dschungels niederging. Ein beruhigender Klaps auf die Schulter folgte, und Luke Morgan senkte beschämt den Kopf. Er war wieder zur Vernunft gelangt.
Dafür drehte in diesem Augenblick der Henker durch. Er jagte hoch und durchbrach die Mauer der Seewölfe.
Sofort wollten sie ihn verfolgen. Aber Hasard pfiff seine Männer zurück.
„Was soll‘s?“ beruhigte er sie. „Wohin kann er sich schon wenden? Er wird sich im Urwald verlaufen und wie wir Hitze, Hunger und Durst genießen. Wir brauchen ihn nicht. An dem beschmutzen wir uns nicht die Hände.“
„Das brauchen wir auch nicht“, stimmte Big Old Shane zu. „Seht doch!“
Er zeigte auf den Spanier, der einen gestürzten Baumriesen benutzte, um schneller vorwärtszugelangen.
El Verdugo balancierte über den Stamm bis zum Ende. Dann zögerte er. Denn vor ihm lag ein ausgedehnter Tümpel. Der Gestank brackigen Wassers schlug ihm entgegen – und ein merkwürdiges Fauchen und Zischen. Ein scheußliches, furchteinflößendes Geräusch. So gebärdeten sich hungrige Kaimane, wenn sie auf Beute aus waren.
Die Seewölfe setzten sich schweigend in Bewegung. Niemand lief, niemand sprach ein Wort.
Verzweifelt wandte sich der Henker um.
Er stand vor einer schrecklichen Wahl: entweder in das Wasser zu springen und Gefahr zu laufen, von einem Kaiman angefallen zu werden oder umzukehren und den Seewölfen erneut in die Finger zu geraten. Er saß in der Klemme.
El Verdugo hatte allerlei blaue Flecken und Schrammen davongetragen. Die Seewölfe hatten ihn nicht gerade geschont, als sie ihre Wut an ihm ausließen.
Sein rechtes Auge war geschlossen, der Mund verquollen. Es sah aus, als zeige das hagere Gesicht ein ständiges schiefes Grinsen – kein angenehmer Anblick bei einem Totenschädel wie ihn der Henker hatte. Seine Kleidung hing in Fetzen von seinem hageren Leib. Er sah zum Fürchten aus oder zum Erbarmen, je nachdem.
Selbst in Big Old Shane stieg die kalte Wut hoch, als er diesem brutalen Folterknecht entgegenging. Unwillkürlich ballte er die Hände.
Vielleicht gab das den Ausschlag.
El Verdugos Angst vor dem Anblick der Männer, die drohend auf ihn zurückten, gab ihm den nötigen Antrieb, das kleinere Übel zu wählen. Nachdem er auf dem glatten Baumstamm hin und her getrippelt war, wandte er sich endgültig dem Tümpel zu. Ein Fehltritt enthob ihn der Notwendigkeit, einen beherzten Kopfsprung zu wagen.
Der Spanier glitt aus und stürzte mit einem halberstickten Aufschrei kopfüber in die grüne Brühe, die über ihm zusammenschlug, als habe er nie existiert. Der Tümpel schluckte ihn mühelos, wie er vorher ganze Baumstämme aufgenommen hatte, Aber er gab ihn wieder frei.
Nach Luft schnappend, mit den Armen rudernd, tauchte El Verdugo auf und wandte sich entschlossen dem jenseitigen Ufer zu. Wenn er die Strecke schaffte, ohne von einem Kaiman angefallen zu werden, befand er sich in Sicherheit.
Der Tümpel, keineswegs breit, sondern eher langgestreckt, schützte ihn vor jeder Verfolgung. Ehe die Seewölfe ihn umrundet hatten, konnte er auf Nimmerwiedersehen in der grünen Hölle untertauchen. Dann würde er an die Küste zurückkehren und die Besatzung der Teufelsinsel auf sich aufmerksam machen, vielleicht durch ein Feuer. Sie würden ein Boot schicken und ihn holen.
El Verdugo schwelgte in den schönsten Träumen, während er um sein Leben schwamm. Er wirkte wie ein Quirl in dem stehenden Gewässer. Der schlammige Grund bewegte sich, wallte hoch, trieb stinkend und undurchsichtig an die Oberfläche. Gasblasen zerplatzten dort.
El Verdugo visierte ein Zwischenziel auf seiner unheimlichen Reise an, einen Baumstamm, der vor ihm im Wasser trieb.
Als er näher heran war, hob sich das bewegungslos dahintreibende Etwas. Mit Entsetzen starrte der Henker in ein Paar bernsteingelbe Augen, geschlitzt und tückisch.
Das Zischen und Fauchen am Ufer war noch nicht abgerissen. Dort hatte El Verdugo die Gefahr vermutet. Jetzt begegnete sie ihm mitten im Tümpel, als Baumstamm getarnt!
Dann geriet urplötzlich Leben in das langgestreckte grünbemooste Wesen. Eine mächtige Schwanzflosse peitschte das Wasser. Ein Rachen öffnete sich. Zwei Reihen furchtbarer Zähne blitzten auf.
Mit einem Schrei warf sich El Verdugo herum.
Das war sein Ende.
Pfeilschnell schoß der Kaiman, der im Wasser zu Hause war, heran. Scharfe Zähne packten El Verdugo erst am Bein, dann an der Schulter. Kiefer, die gewohnt waren, etwas festzuhalten, schlossen sich wie eiserne Zwingen.
Der Todesschrei des Henkers endete in einem halberstickten Gurgeln. Kurz noch ruderten seine Arme wie wild. Der Kaiman tauchte weg.
El Verdugo verschwand spurlos.
Keiner der Seewölfe hatte eingegriffen. Schweigend hatten sie das Drama beobachtet. Hasard, der für jeden seiner Männer bedenkenlos das Leben in die Schanze geschlagen hätte, stand regungslos am Ufer.
Ben Brighton sprach aus, was alle empfanden.
„Es ist schrecklich“, brummte er erschüttert. „Aber ganz unverdient ist dieses Ende nicht. Er hat jeden von uns bluten lassen. Jetzt ist er selbst dran.“
Die tobende Bestie behielt ihre Beute eisern unter Wasser. Erst sehr viel später würden die Echsen über El Verdugo herfallen. Aber schon entbrannte der Kampf um das Futter. Überall tauchten Kaimane auf. Sie hatten irgendwo am Ufer gelauert, zahlreich, beutelüstern, unbeweglich.
Jetzt gerieten sie schier aus dem Häuschen, warfen die gepanzerten Leiber ins Wasser, daß es aufspritzte, tauchten mit wuchtigen Schwanzschlägen ab und versanken spurlos in der Brühe.
Es schien, als nehme die Invasion kein Ende. Das Wasser schien zu kochen und zu brodeln.
Der Gestank an dem Tümpel wurde unerträglich. Zu viele Gliedmaßen rührten den Modder auf. Bisweilen tauchte eine der Bestien auf, warf sich herum und verschwand wieder. Unter der Oberfläche, in dem trüben und nicht zu durchschauenden Wasser spielte sich ein erbitterter Kampf ab, von dem El Verdugo nichts mehr spürte. Er war nur noch ein lebloser Gegenstand, ein Objekt, ein Jagdopfer.
Einmal tauchte ein riesiger Kaiman auf, der einen Fetzen von El Verdugos Kleidung im Maul hielt und das erbeutete Stück gierig verschlang, bevor er wieder tauchte, um sich mehr zu holen.
„Kommt, Leute“, sagte Hasard müde. „Wir haben noch ein ganzes Stück bis zum Fluß. Und Smoky liegt allein auf seiner Trage. Er kann uns nicht sehen. Er wird sich sorgen.“