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b) Arglos

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Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat keines tätlichen Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit oder sein Lebens versieht.[21]

Voraussetzung hierfür ist zunächst die Fähigkeit zum Argwohn. Sie fehlt nach herrschender Meinung bei kleinen Kindern,[22] da diese noch keinen Argwohn empfinden und mithin auch nicht arglos sein können. Eine heimtückische Tötung kommt hier allerdings in Betracht, wenn der Täter die Arglosigkeit eines schutzbereiten Dritten planmäßig berechnend zur Tötung ausnutzt.[23] Voraussetzung dafür ist aber, dass der Dritte seinen Schutz wirksam erbringen kann, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich aber auch ausreichend ist.[24]

Beispiel

A möchte sich von der Verpflichtung befreien, die ihm dadurch entstanden ist, dass seine Ex-Freundin F überraschend schwanger wurde und einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hat. Er spielt der zunächst skeptischen F erfolgreich vor, dass er es sich anders überlegt habe und sich nunmehr auf seine Vaterrolle freue. Er erklärt ihr, dass sie sich ruhig einmal einen schönen Nachmittag mit ihren Freundinnen machen könne, er werde verantwortungsvoll auf das Kind aufpassen und so eine engere Beziehung zu dem Kind entwickeln. Während F erleichtert und freudig zum Kaffeeklatsch geht, erstickt A das Neugeborene mit einem Kissen und ruft dann „verzweifelt“ den Arzt, dem er erklärt, dass sein Sohn wohl am plötzlichen Kindstod gestorben sei.

Hier hat A planvoll und berechnend die Arg- und damit einhergehende Wehrlosigkeit der Freundin F zur Tötung des Kindes ausgenutzt und damit eine heimtückische Tötung begangen.

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Der BGH hat jedoch in einem Fall, in dem ein kleines Kind dadurch vergiftet wurde, dass ein bitter schmeckender Giftstoff, welchen das Kind ausgespuckt hätte, mit süßem Brei vermischt wurde, ebenfalls eine heimtückische Tötung angenommen, obgleich er im Übrigen daran festhält, dass bei Kleinstkindern infolge der Unfähigkeit zum Argwohn eine Arglosigkeit nicht vorliegen könne.[25] Der BGH hat diese Entscheidung damit begründet, dass in diesem Fall der Täter extra um die Abwehrinstinkte des Kindes zu überwinden, den Giftstoff in den süßen Brei gemischt habe und damit tückisch vorgegangen sei. Diese Entscheidung ist wenig überzeugend, da der Täter lediglich natürliche Abwehrinstinkte zu überwinden versucht hat, nicht jedoch bewusst eine Arglosigkeit ausgenutzt hat, da Kinder in diesem Alter nicht zum Argwohn fähig sind.

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Auch die Tötung eines plötzlich Bewusstlosen stellt keine heimtückische Tötung dar, da ein Bewusstloser nicht arglos sein kann. Anders ist es bei einem Schlafenden. Auch wenn dieser zum Zeitpunkt des Schlafes nicht zum Argwohn fähig ist und damit auch nicht arglos sein kann, so ist er es doch in dem Augenblick, in welchem er sich in den Schlaf hinein begibt. Nach herrschender Ansicht nimmt der Schlafende die Arglosigkeit mit in den Schlaf, das heißt, er geht zum Zeitpunkt des Einschlafens davon aus, dass ihm im Schlaf nichts passieren werde. Im Gegensatz dazu nimmt der plötzlich Besinnungslose die Arglosigkeit nicht mit in die Besinnungslosigkeit, da er im Normalfall nicht wissen kann, dass er im nächsten Augenblick besinnungslos werden wird.[26] Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann es ausnahmsweise auch bei einem Schlafenden an der Arglosigkeit fehlen, wenn er gleichsam „vom Schlaf übermannt“ wird.[27]

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Wichtig ist, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Tatbegehung, also bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadium arglos ist. Arglosigkeit kann dann nicht vorliegen, wenn der Täter dem Opfer offen feindselig gegenüber tritt (es sei denn, dass Opfer nimmt den Täter nicht ernst, vgl. dazu das Beispiel unter Rn. 45). Allerdings ist hier der Zeitpunkt von großer Bedeutung. Erfolgt die feindselige Konfrontation so kurz vor der Tötungshandlung, dass das Opfer keine Zeit mehr hat, entsprechend zu reagieren, so kann die Arglosigkeit bejaht werden.[28] Gleiches gilt, wenn die Aggression schon länger zurückliegt, so dass das Opfer zum Tatzeitpunkt nicht mit einem Angriff rechnet.

Beispiel

Der lebensmüde A fährt des Nachts ohne Abblendlicht in entgegengesetzter Richtung auf der Autobahn, um sich bei einer Kollision zu töten. Das Abblendlicht hat er ausgeschaltet, um von den entgegenkommenden Fahrzeugen nicht erkannt zu werden und so seine Erfolgsaussichten zu erhöhen. Aufgrund eines spontanen Impulses schaltet er jedoch das Licht just zu dem Zeitpunkt ein, als B ihm auf seiner Fahrspur entgegen kommt. B erkennt zwar aufgrund dessen A noch, kann aber nicht mehr reagieren, so dass es zu einer für B tödlichen Kollision kommt. Den Tod des B nimmt A dabei zumindest billigend in Kauf.[29]

Hier war B zwar zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes nicht mehr arglos. Die Arglosigkeit lag aber vor, als die Tat in das Versuchsstadium eintrat. Aufgrund der unmittelbar nachfolgenden Kollision blieb B keine Möglichkeit mehr, den Angriff abzuwehren, so dass A sich des heimtückischen Mordes schuldig gemacht hat.

Beispiel

Der bisherige Lebensgefährte der E kann nicht verwinden, dass diese sich von ihm getrennt hat. So hat er ihr in der Vergangenheit mehrfach sowohl zu Hause als auch auf der Arbeit aufgelauert und sie massiv mit dem Tode bedroht. Aus Angst vor L wagt sich E nicht mehr ohne Begleitung aus dem Haus. Als sie nun nachts ihr Auto aus der Garage holen möchte, um zur Arbeit zu fahren, stellt sie Farbanhaftungen auf dem Garagentor fest. Als sie gemeinsam mit dem sie begleitenden A versucht, mit einem Lappen diese Anhaftungen zu entfernen, tritt L mit einer Pistole in der Hand aus seinem Versteck und gibt mehrere Schüsse auf E und A ab, die den Angriff jedoch überleben.

Hier hat der BGH[30] die Arglosigkeit der E bejaht. Zwar bestand zwischen ihr und L eine feindselige Atmosphäre, die dazu führe, dass E in ständiger Angst lebte. Zum Tatzeitpunkt rechnete sie aber nicht mit einem Angriff des L, was sich schon daraus entnehmen lässt, dass sie in aller Ruhe versuchte, die Farbanhaftungen zu entfernen. Hätte sie damit gerechnet, dass sich L in der Nähe befinde, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach sofort in ihr Haus zurück gegangen oder aber ins Fahrzeug eingestiegen.

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In engen Ausnahmefällen nimmt der BGH bei der Arglosigkeit eine normativ orientierte, einschränkende Auslegung vor, wenn das Opfer den Täter angegriffen hat, der Angriff zwar schon vollendet aber noch nicht beendet ist und der Täter sich in dieser Situation verteidigt, indem er das Opfer überraschend tötet. Im Interesse des Wertungsgleichklangs mit dem Notwehrrecht gem. § 32, welches dem Täter im Einzelfall eine überraschende Tötung gestatte und damit der Tötung das Tückische nehme, soll nach dem BGH die Arglosigkeit bei normativer Betrachtung verneint werden, auch wenn das Opfer faktisch tatsächlich überrascht war.

Wiederholen Sie an dieser Stelle das Kapitel „Notwehr“ gem. § 32 aus dem Skript „Strafrecht AT I“.

Beispiel

A, der mit Raubkopien handelt, wird von B deswegen erpresst. Eines Tages kommt B in Begleitung des C zu A und fordert ihn erneut zur Zahlung von 5000 € auf. Nach entsprechenden Drohgebärden übergibt A das Geld an C, da er glaubt andernfalls von B angezeigt zu werden. Motiviert durch extreme Wut über den Verlust des Ersparten tritt A danach hinter den B, der zu diesem Zeitpunkt die Hände in den Hosentaschen hat, und schlitzt ihm mit einem Messer die Halsschlagader auf.[31]

Hier könnte sich A wegen heimtückischen Mordes gem. §§ 212, 211 an B strafbar gemacht haben, indem er ihm von hinten das Messer über den Hals zog.

Dann müsste B arg- und wehrlos gewesen sein. Tatsächlich rechnete B zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem Angriff, so dass er arglos gewesen sein könnte. Der BGH hat allerdings ausgeführt, dass das Verletzen mit dem Messer eine Handlung sein könnte, die gem. § 32 gerechtfertigt ist. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Angriff des B (§§ 253, 255) auf das Vermögen des A noch fort, da die Erpressung zwar schon vollendet, aber noch nicht beendet war. Der Angriff des B war auch rechtswidrig. Damit bestand eine Notwehrlage gem. § 32, die grundsätzlich auch eine Tötung gem. §§ 211, 212 erlaubt. Der BGH hat ausgeführt, dass in einer solchen Situation der „wahre“ Angreifer, also B, immer mit einer erlaubten Verteidigungshandlung des Angegriffenen rechnen müsse. Sofern die Verletzung die erforderliche und gebotene Verteidigung gewesen wäre, wäre A sogar gerechtfertigt gewesen. Der BGH hat dementsprechend unter Einbeziehung der Wertungsgesichtspunkte des § 32 („erlaubtes Verhalten“) die Arglosigkeit des B verneint.

Hinweis

Der BGH hat dabei deutlich gemacht, dass es nicht erforderlich ist, dass die Handlung auch tatsächlich gem. § 32 gerechtfertigt ist. Er führt vielmehr aus, dass es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht sei, „dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage … in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzulasten, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen.“[32]

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In der Literatur ist diese Entscheidung teilweise auf Ablehnung gestoßen.[33] Es wird darauf hingewiesen, dass der BGH durch diese normative Auslegung, wie die negative Typenkorrektur, die er ablehnt, eine wertende Gesamtbetrachtung vorgenommen habe, die zu einer Fiktion des Argwohns führt.

JURIQ-Klausurtipp

In der Klausur müssen Sie diese neue BGH-Rechtsprechung diskutieren, nachdem Sie festgestellt haben, dass das Opfer tatsächlich „überrascht“ war. Sie müssen nun danach fragen, ob dies für die Annahme der Arglosigkeit ausreicht. Bei der nun folgenden Diskussion ist es unerlässlich, vorweggenommen die Voraussetzungen des § 32, jedenfalls die Notwehrlage zu prüfen.

Eine Ausdehnung dieser einschränkenden, normativen Auslegung auf eine Tötungshandlung, die der Täter bei einem Zustand der Dauergefahr gem. § 34 vornimmt, hat der BGH allerdings in einer späteren Entscheidung abgelehnt.[34]

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