Читать книгу Sommer Roman-Paket Unterhaltungsromane und Erzählungen: In Paris und andernorts - Sandy Palmer - Страница 65

Оглавление

20


Antje Büchner fühlte sich elend. Morgens war ihr regelmäßig übel, aber das hätte sie nicht gestört, denn es gehörte einfach mit zur Schwangerschaft, und tagsüber wäre es ihr gutgegangen, wenn es diese seelische Übelkeit nicht gegeben hätte.

Sie war empfindlich geworden, weinte wegen jeder Kleinigkeit. In der Firma wussten inzwischen alle, dass sie schwanger war, und man nahm in rührender Weise Rücksicht auf sie.

Sie verkorkste so manches, doch sie bekam von ihrem Chef nie ein rügendes Wort zu hören. Er wusste, was sie leisten konnte, wenn sie in Ordnung war, und ihm war klar, dass dieses Tief keine neun Monate anhalten würde.

Der Körper musste sich umstellen, musste sich auf das Baby einstellen.

Dass es da im Beruf zu Fehlleistungen kommen konnte, war verständlich.

Niemand ahnte, dass es einen anderen Grund gab, weshalb sich Antje so deprimiert durch den Tag schleppte, denn sie sprach mit niemandem über ihre Sorgen.

Sie war ihren Kollegen dankbar für jedes freundliche Wort, das sie hatten. Wenigstens sie mögen mich noch, dachte sie traurig. Gideon Arendt hatte nach jenem letzten Rendezvous nichts mehr von sich hören lassen.

Bei Antje zu Hause stand sein Bild immer noch auf der Kommode. Wenn sie es ansah, füllten sich ihre Augen regelmäßig mit Tränen, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie diese Krise überwinden sollte.

Häufiger als sonst dachte sie an ihre Eltern, die im fernen Hamburg wohnten und nichts von sich hören ließen. Vater hatte ihr immer noch nicht verziehen, dass sie Grafikerin geworden war.^

Er wollte sie als Verkäuferin in seinem Wollladen haben, schließlich sollte sie das Geschäft ja eines Tages erben. Da war es nur recht und billig, wenn sie bis dahin für wenig Geld dort arbeitete.

Von Mutter hatte Antje Büchner nicht die geringste Unterstützung bekommen, obwohl sie sie händeringend darum gebeten hatte. Mutter hielt immer zu Vater. Ihrer Tochter gegenüber war sie kühl und abweisend - manchmal beinahe wie eine Fremde.

Obwohl das Verhältnis zu den Eltern denkbar schlecht war, hätte Antje die beiden gern mal wiedergesehen. Vielleicht erging es ihnen genauso, und sie wollten nur nicht den ersten Schritt tun.

Antje war zweimal nahe daran, einfach anzurufen, aber dann konnte sie sich doch nicht dazu überwinden.

»Jetzt, da es ihr schlechtgeht, erinnert sie sich an ihre Eltern«, hätte Vater wahrscheinlich gesagt. »Ich will nichts mehr von ihr wissen. Sie hat mich damals im Stich gelassen, hörte sich nicht einmal an, was ich zu sagen hatte, schaltete auf stur und ging fort. Soll sie weiter selbst sehen, wo sie bleibt. Sie interessiert mich nicht mehr. Ich habe keine Tochter mehr.«

Vater war immer sehr hart gewesen. Verzeihen hatte er nur sehr schwer können. Geboren und aufgewachsen war er in der Ostzone. Auch Antje Büchner war drüben zur Welt gekommen.

Eine abenteuerliche Flucht lag angeblich hinter ihnen. Antje war damals zu klein gewesen, um etwas davon mitzubekommen. Ohne Papiere, ohne Geld waren sie in den Westen gekommen.

Sie hatten nur das besessen, was sie am Leib trugen, und das war herzlich wenig gewesen. Aber die neue Heimat hatte ihnen eine Starthilfe gegeben, und Vater hatte mit Fleiß und Ehrgeiz etwas daraus gemacht.

Drüben hatte er immer von einem eigenen Laden geträumt. Im Westen war dieser Traum in Erfüllung gegangen, und er konnte nicht verstehen, dass seine Tochter nicht so sehr an dem Geschäft hing wie er.

Als sie ihre Koffer packte, hatte er mit ihr gebrochen, und auch Mutter hatte ihr nie geschrieben, nicht einmal heimlich - keine einzige Zeile.

Sie war für mich immer eine fremde Frau, dachte Antje Büchner. So ein Verhältnis möchte ich zu meinem Kind niemals haben. Wie kann einem der Ehemann mehr bedeuten als das eigene Fleisch und Blut?

Ein Anruf war vielleicht nicht das Richtige. Wenn ein Wort gesagt war, war es draußen. An einem Brief konnte Antje so lange feilen, bis er die richtige Form hatte.

Sie konnte vier, fünf Fassungen schreiben, streichen, was ihr nicht gefiel, hinzufügen, was noch erwähnt werden musste. Sie konnte Erklärungen anhängen, ungewollte Spitzen abschwächen, hier und dort Retuschen vornehmen.

Sie konnte den Brief so oft schreiben, bis es keine Missverständnisse mehr geben konnte, bis alle Argumente genau den Punkt trafen, an das Gewissen appellierten, das Herz rührten.

Wenn wir uns auch entfremdet haben, dachte Antje, so sind wir doch niemals richtige Fremde. Wenn wir bereit sind genau hinzuhören, vernehmen wir den leisen Ruf unseres Blutes.

Ja, sie würde ihren Eltern einen langen, langen Brief schreiben. Vielleicht nicht gleich heute, aber in den nächsten Tagen. Am Wochenende würde sie für eine erste Fassung Zeit haben.

Sie machte sich jetzt schon Notizen, schrieb in Stichworten auf, was unbedingt in den Brief hinein musste. Was sie notierte, konnte nicht mehr vergessen werden.

Sie würde sämtliche Fassungen mit der Maschine schreiben, nur die letzte, die endgültige nicht; die würde sie mit der Hand schreiben, weil sie wusste, dass Vater sehr großen Wert darauf legte.

Andere waren froh, überhaupt einen Brief zu bekommen. Vater nicht. Wer es nicht der Mühe wert fand, ihn mit der Hand zu schreiben, musste befürchten, dass sein Brief ungelesen im Papierkorb landete, und Antje wollte nicht tagelang an einem Brief schreiben, der dann im Papierkorb >aufbewahrt< wurde.

Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie das Ende der Arbeitszeit nicht mitbekam.

Erst als Bernd Riepel sagte: »Feierabend, du darfst nach Hause gehen«, kam sie zu sich.

»Tschüs, bis morgen«, sagte Antje.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte der Kollege höflich.

»Ich möchte noch ein bisschen laufen«, antwortete die werdende Mutter.

. »Hast du Lust auf einen Entspannungsdrink?«, ließ Bernd nicht locker.

»Ein andermal«, antwortete Antje. »Ich bin heute nicht in Stimmung.«

»Das bist du in letzter Zeit ja nie, aber ich mische mich da wohl in Dinge, die mich nichts angehen«, sagte Bernd seufzend und ging.

Kurz nach ihm verließ Antje Büchner das Studio. Sie freute sich auf den Spaziergang. Es gab so vieles auf dem Heimweg, das sie ablenken würde...

Jemand hupte kurz. Die junge Frau nahm nicht an, dass sie das anging, reagierte nicht. Erst als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen.

»Fräulein Büchner!«

»Herr Doktor Anders!«, rief Antje erfreut aus. »Ist das ein Zufall.«

Sommer Roman-Paket Unterhaltungsromane und Erzählungen: In Paris und andernorts

Подняться наверх