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Gründe und Folgen

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Verschiedene Untersuchungen in lateinamerikanischen Ländern zeigen, dass das Phänomen der minderjährigen Mütter häufig mit drei Merkmalen einhergeht: Erstens leben die meisten Kindermütter auf dem Land. Sie sind – zweitens– nur wenige Jahre oder überhaupt nicht zur Schule gegangen. Und drittens: Ihr Dasein ist von Armut geprägt. Fallen alle drei Charakteristika zusammen, so potenziert sich das Risiko beträchtlich.

Am höchsten ist die Schwangerschaftsrate Minderjähriger in ländlichen Gebieten. Fern von der Stadt ist es besonders schwierig, an Verhütungsmittel zu kommen. Minderjährige Mädchen werden dort doppelt so häufig schwanger wie Gleichaltrige in den Städten.

Der Unterschied steigt auf das Siebenfache, wenn die Jugendlichen obendrein keine oder nur eine geringe Schulbildung genossen haben. Der Anteil der Schwangerschaften Minderjähriger ist unter Mädchen ohne oder mit nur geringer Schulbildung viermal so hoch wie unter Absolventinnen einer Sekundarschule. Die Schwangerschaft fällt gewöhnlich in die Zeit, in der die Jugendliche die Abschlussklasse einer weiterführenden Schule besucht. Kommt es zu einem Abbruch der Schullaufbahn, so bedeutet dies, dass die Betroffene den Ausbildungsgrad nicht erreicht, der sie für eine aussichtsreiche Berufslaufbahn qualifizieren könnte.

Auf das Fünfzehnfache wächst die statistische Wahrscheinlichkeit einer verfrühten Schwangerschaft, wenn zur ländlichen Lebenssituation und mangelnder Schulbildung Armut hinzukommt. Armut erhöht im Übrigen auch die Sterblichkeitsrate von Mutter und Kind.

Einige Beobachter neigen zu der Auffassung, dass Schulabbrüche oft Folge von Schwangerschaften seien. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Vorzeitiger Schulabbruch führt häufig zu früher Schwangerschaft. Viele Mädchen, die bereits in jugendlichem Alter Mutter geworden sind, haben die Schule verlassen, ehe sie schwanger wurden. Schulabbruch ist demnach eher eine Bedingung, seltener die Konsequenz einer Schwangerschaft.

Schwangerschaften Minderjähriger haben Folgen, die die Mütter, ihre Familien, ihre Umgebung und auch den Staat belasten. Minderjährigen Schwangeren droht die soziale Isolation und Stigmatisierung. Ohne Schulabschluss gelingt es ihnen kaum, die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben zu schaffen. Eine ­frühe Schwangerschaft erhöht insbesondere in armen Ländern für die Mutter und ihre Familie das Risiko zu verelenden. Alleinstehende junge Mütter haben selten, und dann nur eingeschränkt, die Möglichkeit zu arbeiten und Geld für den ­eigenen Unterhalt wie für den ihrer Kinder zu verdienen. Da junge Mütter samt Nachwuchs häufig bei ihren Eltern Unterschlupf suchen, die ohnedies in beengten und ärmlichen Verhältnissen leben, werden wiederum deren Einkommen und die Überlebenschancen noch stärker belastet. Unter den negativen Folgen verfrühter Mutterschaft leiden besonders die betroffenen jungen Frauen, zumal die Väter häufig jegliche Verantwortung abstreiten und ihre Pflichten nicht wahrnehmen. Über sie, über ihre Einstellungen und Meinungen gibt es übrigens bis heute keine wissenschaftlichen Untersuchungen.

Junge Schwangere und Kinder in prekären Lebenslagen laufen Gefahr, krank zu werden oder bei der Geburt zu sterben. Die Sterblichkeitsrate, die bei Müttern mit steigendem Alter (bis zu 34 Jahren) abfällt, ist bei den Jüngsten am höchsten. Bei Mädchen, die im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ein Kind bekommen, ist die Gefährdung doppelt so hoch wie bei Müttern zwischen 20 und 30 Jahren. Mit der frühen Mutterschaft ist auch für das Neugeborene ein großes Mortalitätsrisiko verbunden. Häufiger als Kinder älterer Mütter sterben Kinder von Minderjährigen, ehe sie ein Jahr alt werden. Naturgemäß ist die Gefahr dann am größten, wenn ein schwangeres Mädchen in Armut lebt. Kinder jugendlicher Mütter werden häufig mit Untergewicht, d.h. mit weniger als 2500 Gramm, geboren, und dieses Manko können sie im weiteren Wachstumsprozess kaum ausgleichen.

Da frühzeitige Schwangerschaften meist ungeplant sind, ist das erwartete Kind oft nicht erwünscht – entsprechend unfreundlich wird es empfangen und nur nachlässig versorgt. Selten lebt die minderjährige Mutter in einer festen Beziehung. Die ungesicherte Lebenslage birgt die Gefahr, dass sich die in der Familie ohnehin herrschende Armut verschlimmert und es deshalb zu Konflikten kommt. Die schwangeren Mädchen werden von ihren Verwandten nicht selten zurückgewiesen oder verstoßen. Schnell geraten sie in emotionale Bedrängnis und eine finanziell aussichtslose Lage.

Oft sind Schwangerschaften Minderjähriger eine Folge kritischer Lebensereignisse. Sie hängen bisweilen mit der Scheidung oder Trennung der Eltern, mit Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Tod naher Verwandter oder mit wirtschaftlichen Schicksalsschlägen zusammen. Der Alltag der Betroffenen ist mitunter von Gewalt, Alkoholmissbrauch und Vernachlässigung geprägt. In solchen Krisen regt sich bei Jugendlichen der Wunsch, selbst ein Kind zu haben, das die eigene Befindlichkeit aufbessert. Schwangerschaft und Mutterschaft erscheinen dann als Ausweg aus Konflikten und Notlagen, ungeachtet der Tatsache, dass sie in verschärfte Problemsituationen hineinführen. Jugendliche haben mitunter die Hoffnung, dass sie als Schwangere ihr Leben besser bewältigen können. Sie glauben, dass sie auf diesem Weg einen unterstützenden Partner oder fürsorgenden Ehemann finden. Gleichzeitig wollen sie mehr Akzeptanz und Ansehen erreichen. Die Gründung einer »richtigen Familie«, so glauben manche, werde ihren emotio­nalen, ökonomischen und sozialen Status aufbessern.

Überall dort, wo die Zahl der minderjährigen Schwangeren und der Kindermütter ansteigt, nehmen auch die Schwangerschaftsabbrüche zu. Allein in den oben genannten sechs andinen Ländern soll es Jahr für Jahr 70 000 Abtreibungen geben. Gegen Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Kolumbien weit über 80 Prozent der ungewollten Schwangerschaften Minderjähriger abgetrieben – und zwar zu einem großen Teil von unqualifiziertem Personal, mit beträchtlichen gesundheitlichen Risiken.

Auf die Mädchen, die sich im Zentrum Medellíns herumtreiben, treffen sämt­liche Merkmale zu, die das Risiko und die Gefahr einer frühen und problematischen Schwangerschaft erhöhen – Armut, Gewalt, mangelnde Schulbildung, Lebenskrisen, Missbrauch, fehlende Aufklärung und unzureichende Gesundheitsfürsorge. Für Flor, María-Isabel und Azucena gilt, was für alle Straßenmädchen zutrifft: Sie leiden permanent unter Mangel an Zuwendung. Kaum jemals hatten sie die Möglichkeit, sich zu behaupten und ihr Leben selbst zu bestimmen. Schwangere Mädchen und Kindermütter, die zusammen mit ihrem Nachwuchs auf den Straßen in Medellín wie auch in den anderen Metropolen der Entwicklungsländer leben, stellen eine extreme Risikogruppe dar. Sie, die so gut wie immer aus unterprivilegierten Familien stammen, sind meist selbst in misslichen Situa­tionen gezeugt und unter erschwerten Bedingungen von mangelernährten Müttern mit Bangen erwartet und ausgetragen worden. So setzt sich das Elend von Generation zu Generation fort.


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