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2 Babystrich – Kinderprostitution Ein kleiner Platz im Zentrum der Stadt
ОглавлениеDie Plazoleta Rojas Pinilla ist ein kleiner Platz im Zentrum der lateinamerikanischen Millionenmetropole Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens. In Form eines spitzen Dreiecks geschnitten, misst er an der Breitseite etwa vierzig, in der Länge wohl sechzig Meter. Man erfasst den Ort mit einem Blick: Um die Statue des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Rojas Pinilla herum findet eine wilde Jagd statt. Ein kleiner Junge hat einem Mädchen die Kleberflasche entrissen, und während er mit der einen Hand die empörte Verfolgerin abwehrt, versucht er mit der anderen, an der Flasche zu schnüffeln, vergebens. Unter einem der niedrigen Bäume mit ihren tellergroßen, schattenspendenden Blättern liegt eine Frau wie tot. Ein Junge wirft sich auf sie und küsst die Schlafende. Sie wacht auf, schreit und schlägt nach ihm. Vor einer Bar hält sich eine kleine Gruppe von Menschen auf, Erwachsene und Kinder. Zwei Polizisten, die ihr Motorrad am Straßenrand abgestellt haben, tasten jeden nach Waffen und Rauschgift ab, der wie ein Straßenbewohner aussieht. Ein junger Mann von dunkler Hautfarbe, dessen Beine bis auf zwei Stümpfe amputiert sind, ist, abgesehen von einer zerschlissenen Plastiktüte, die er wie eine Unterhose trägt, unbekleidet. So rutscht er erstaunlich schnell über den Platz, indem er sich mit den Armen voranrobbt. Dort, wo das Pflaster des Platzes aufgebrochen ist, verrichtet er seine Notdurft. Die Düfte des Marktes mischen sich mit denen von Kot, verfaultem Obst und Urin.
Der Rojas-Pinilla-Platz und seine Umgebung ist der Ort, wo sich Flor, Marina, María-Isabel und die anderen meistens aufhalten, wo sie arbeiten und wohnen. Es scheint so, als drängten sich dort auf wenigen Quadratmetern die grundlegenden Probleme, Widersprüche und Konflikte zusammen, die die Menschen dieses Landes und seiner Städte bedrängen – Vertreibung und Flucht, Armut und Obdachlosigkeit, Kampf um Lebensraum, aggressive Auseinandersetzung zwischen Paramilitarismus und Guerilla, Drogenkonsum, Prostitution und Kriminalität. Neben den fliegenden Händlern, Arbeitern, Verkäufern der umliegenden Geschäfte, Prostituierten, Polizisten, Ordnungskräften und Müllsammlern trifft man hier obdachlose Straßenbewohner, ältere Frauen und Männer, viele Jugendliche, Jungen wie Mädchen, und Kinder, von denen die kleinsten acht, zehn und zwölf Jahre alt sind.
Die Mädchen bekleiden sich meist nur spärlich, selbst bei kühlem Regen. Mehrere von ihnen sind schwanger. Die Zwölf- und Dreizehnjährigen sehen aus wie Achtjährige, klein, unterernährt und retardiert. Ein etwa fünfzigjähriger Mann erzählt, dass er hier auf dem Platz aufgewachsen sei, als Waisenkind. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Irgendwann setzten sie ihn aus, und mitleidige Leute haben das Kleinkind aufgepäppelt. Fast alle, Erwachsene wie Kinder, schnüffeln Kleber, einige konsumieren Alkohol, Marihuana oder Basuco, ein Zwischenprodukt aus der Kokainherstellung. Sie schwanken beim Gehen, Stehen und Sitzen, sprechen lallend und erwachen nur gelegentlich zu vollem Bewusstsein aus dem Rausch.
Flor, Marina und María-Isabel sind Mädchen, die früh aus dem Schutz ihrer Familien herausgefallen sind, wahrscheinlich haben sie auch sonst in ihrem Leben wenig Wärme, Verständnis und Zuwendung erfahren. Wie die meisten Mädchen auf dem Platz haben sie der Missachtung und Ausbeutung zu Hause die Ungewissheit der Straße vorgezogen. Die Freiheit habe sie gelockt, sagen sie. Auf der Suche nach Freundschaft, Orientierung und Halt haben sie sich mit anderen zusammengetan, sie sind schwanger geworden. Selbst noch im Kindesalter, haben sie Kinder bekommen. Flor und Marina reihen sich in die Gruppe der »Kindermütter« ein, die die Region um den Rojas-Pinilla-Platz bevölkern – in wachsender Zahl.
Auch Luis, vor ein, zwei Jahren noch einer der kleinsten Straßenjungen in der Gegend, treibt sich auf der Plazoleta herum. Fast immer ist er mit seinem älteren Bruder Felipe zusammen. Früher präsentierten sie sich gerne in liebevoller Eintracht: Felipe, am Boden sitzend, hielt den Kleinen behutsam im Arm wie die heilige Jungfrau das göttliche Kind. Das rührte die Passanten und brachte den beiden so manche milde Gabe ein.
Heute ist Luis kein Kind mehr, er musste sich andere Geldquellen erschließen. An Größe hat er kaum zugelegt; aber seine Züge sind die eines jungen Mannes, der kräftig, flink und zupackend das Leben meistert und auszuteilen weiß, wenn es denn sein muss. Jetzt wirkt er meist abweisend und mürrisch, und er ist jederzeit bereit, Hiebe auszuteilen, wenn ihm einer ungelegen kommt. Mit Flor, Marina, María-Isabel und mit Xiomara ist er befreundet. Die Besitzerin eines der Stundenhotels in der Nähe des Platzes hat ihn als Wächter engagiert. Nun steht er Tag und Nacht hinter dem Eisengitter, das den Eingang versperrt, und lässt die Mädchen und ihre Freier ein und aus.