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Straßenverhältnisse

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Die Mädchen, die hübsch sind und gepflegt aussehen, können von ihren Freiern mehr verlangen als andere. Luisa und Valentina gehören zu den besonders ansehnlichen Mädchen an der Avenida Prado. Sie sind immer sauber, haben rot geschminkte Lippen und gefärbte Augenlider. Man könnte daran zweifeln, dass sie richtige Straßenmädchen sind. Tagsüber halten sie sich mit den andern auf der Straße auf, scherzen viel, lachen, schnüffeln hin und wieder an Kleberflaschen und versorgen, wenn sie nicht gerade arbeiten, liebevoll ihre Kinder.

Valentina und Luisa sind Cousinen. Beide haben feste Partner. Sie wohnen im selben Hotel wie die anderen Straßenmädchen, haben aber auch die Möglichkeit, bei ihren Familien unterzukommen, die weit oben über Santo Domingo ihr Häuschen haben.

Luisas Tochter heißt Valeria und ist vier, Valentinas Tochter Lina ist sieben Jahre alt. Die beiden Kinder spielen auf dem Bürgersteig vor dem Hotel­eingang, auf der Straße und an der Metrostation. Meist sind sie mit Fernanda zusammen, die etwa so alt ist wie sie. Fernanda ist die Tochter von Luisas Mutter Katherine, die im selben Hotel wie ihre Tochter, ihre Enkelin und ihre Nichte wohnt, nur in einem anderen Zimmer.

Luisa hat ihren Vater nie kennengelernt. Sie sagt, ihre Mutter habe außer ihr und Fernanda zehn weitere Kinder, also mindestens zwölf, Fernanda ist das jüngste von ihnen. Für die Kinder hat das Gewerbe ihrer Mutter, Tante und Großmutter, in das sie nach und nach hineinwachsen, nichts Außer­gewöhnliches an sich.


Die Stigmatisierung des Raums und seiner Bewohner, der erwachsenen und der minderjährigen Prostituierten, ist der Grund für den unüberwindbaren Graben, der das Andere, Unordentliche und Verwerfliche von der eigenen Welt trennt – man weiß darüber tatsächlich so gut wie nichts und füllt das Vakuum mit Phantastischem auf. Der Frauen-, Kinder- und Transvestitenstrich im Zentrum Medellíns ist nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für das wissenschaftliche Interesse bis heute eine Grauzone geblieben, ein unbekanntes, fremdes Terrain. Wer die Nebel lichten, die Schleier beiseiteschieben wollte, weckte Erstaunen, machte sich selbst verdächtig. Prostitution ist in der Forschung ein anrüchiges Unter­suchungsgebiet. Kein junger Soziologe an einer der Universitäten der Stadt, der Karriere machen will, könnte es sich leisten, die Gegend zwischen El Prado und der Kathedrale als Forschungsgebiet zu wählen. Wer es dennoch wagte, würde wahrscheinlich im Handumdrehen auf akademische Hindernisse, administrative Widerstände und kollegiale Abwehr stoßen. Bei der vorbereitenden Datenanalyse könnte er auf nur wenige Texte und Außenbetrachtungen zurückgreifen. Da ethnographische Beobachtung Zugang und persönliche Anwesenheit im »Feld« voraussetzt, würde er sich selbst in Gefahr bringen.

Der Zugang zum Forschungsgebiet ist aber nicht nur durch gesellschaftliches Unverständnis und eigene Hemmnisse, sondern vor allem durch die Abwehr der Objekte der Beobachtung verstellt, zumindest erschwert. Die Personen und das Geschehen entziehen sich mit Bedacht. Der Wunsch, mit Betroffenen zu sprechen, stößt in der Regel und zumindest anfangs auf Skepsis. Wer auf Anonymität Wert legen muss, hat kein Interesse, sich zu offenbaren. Forschung aber ist ihrem Wesen nach Offenlegung. Sie muss in einem Feld, in dem Diskretion unabdingbar ist, auf entschiedenen Widerstand und an fast unüberwindbare Grenzen stoßen.

Das abgegrenzte Gebiet der Prostitution verbirgt, was zu wissen Voraussetzung wäre, um die betroffenen Menschen zu verstehen. Welches Schicksal hat sie in dieses Gewerbe, an diesen Ort und in dieses Leben verschlagen? Wie sieht ihr Alltag aus? Wie geht es ihnen? Wie steht es um ihre Gefühle angesichts der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verfemung? Was bedeuten ihnen Sexualität und Liebe? Welche Beziehungen haben sie zu Familie, Freunden, Nachbarn und Klienten? Wie bewältigen sie ihren Alltag? Welches Leben führen sie außerhalb ihrer Arbeit? Wie ertragen sie ihre Existenz in gesellschaftlicher Ausgrenzung? Welches sind ihre Lebensperspektiven? Unbeantwortete Fragen.


Die Welt der Prostituierten gibt Einzelheiten über die dort lebenden Personen nur schwer preis. Selbst grundlegende Daten fehlen. Niemand kennt die Zahl der Frauen, der Minderjährigen, der Jungen in der Prostitution an der Avenida El ­Prado, geschweige denn in der ganzen Stadt. Nicht die Zahl der Freier, die hier bedient werden, nicht einmal die Anzahl der zur Verfügung stehenden Stundenhotels ist bekannt.

Bildung gegen den Strich - eBook

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