Читать книгу Bildung gegen den Strich - eBook - Sara Sierra Jaramillo - Страница 3
Оглавление1 Verschenkt, missbraucht, vergessen:
Mädchen im Straßenmilieu
Flor
Als Säugling von knapp sechs Monaten verschenkte sie ihre Mutter. So wuchs sie bei einem älteren Ehepaar auf, armen Leuten auf dem Land. Mit elf Jahren floh sie in die Stadt und landete auf der Straße. Mit vierzehn wurde sie zum ersten Mal schwanger. Damals verdiente sie ihren Lebensunterhalt längst als Prostituierte. Das Kind konnte sie nicht austragen. Von dem Geld, das sie heute verdient, bezahlt sie ein Bett hinter einem Verschlag im fünften Stock eines Stundenhotels.
Marina
Sie war vierzehn, als ihr Halbbruder sie zum ersten Mal vergewaltigte. Seine Freunde hatten zu ihm gesagt: »Du musst mit einem Mädchen schlafen, das noch Jungfrau ist. Dann wirst du geheilt.« Statt gesund zu werden, steckte er seine Schwester mit dem HI-Virus an. Von dem Augenblick an wollte ihr Vater nichts mehr von ihr wissen. »Du bist schuld. Du hast ihn aufgegeilt.« Von ihrer Mutter besitzt Marina lediglich ein Foto; sie weiß nicht, weshalb sie verschwunden ist. Eines Tages wird sie zurückkommen, davon ist Marina felsenfest überzeugt.
Marina lebt auf der Straße. Sie lernte Alex kennen. Als sie spürte, dass sie schwanger war, versuchte sie, das Kind »wegzumachen«, mit beiden Fäusten boxte sie gegen ihren Bauch.
Kurz vor der Geburt ging sie zu einer Tante. Eng war es dort – fünf Erwachsene, sieben Kinder in zwei Räumen. Abends kam Marinas Vetter von der Arbeit, betrunken. Er schlug auf die Kinder ein und bedrohte die Frauen mit einem Messer. An einem frühen Morgen im August kam das Kind zur Welt. Es war winzig klein und schrie unablässig. Eines Nachts schüttete der Betrunkene kochendes Wasser über das Kind.
Wieder auf der Straße, schlug sich Marina als Prostituierte durch. Sie lernte Marvin kennen, wurde erneut schwanger. Zum Glück fand sie Arbeit in einem Kindergarten. Von dem Virus in ihr spürt sie nichts, sie denkt einfach nicht daran. Jetzt kommt das zweite Kind zur Welt. Ein Mädchen soll es werden, und es soll gesund sein.
Azucena
Sie hat ein hübsches Gesicht, ist kokett und humorvoll. Ihre Zähne leuchten wie Perlen, kontrastierend zur schwarzen Haut, die wie Ebenholz schimmert. In ihre krausen Löckchen sind bunte Perlen geflochten. Die Haare werden an der Stirn von einem himmelblauen Band gehalten. Azucenas Körper ist zierlich und muskulös. Der schwere Bauch quillt aus Bluse und Hose heraus. Sie ist im siebten Monat. In der Gegend, aus der sie kommt, wohnen nur Schwarze. Ihre Eltern sind tot. Sie hat nie mit ihnen zusammengelebt. Azucena hat drei Kinder: Juan Steban (»Stiven«), Kevin und Laura. Sie übernachtet stets auf der Straße, nie in einem Haus. Neben ihr schläft ihr Freund. Er bringt ihr zu essen und zu trinken. Zurzeit braucht sie nicht auf den Strich zu gehen.
Ein Junge schlendert vorbei:
»Hallo Negrita«, ruft er, »schenk mir doch wenigstens einen Blick!«
Azucena: »Nun schau dir mal diesen Typ an! So sind sie alle – stinkfreundlich. Bis sie einen eingewickelt und rumgekriegt haben. Dann machen sie sich aus dem Staub.«
Junge: »Mir kannst du so nicht kommen. Ich bin schon Vater, hab selbst eine Tochter. Die ist acht Jahre.«
Azucena: »Stell dir vor, von dem Typ war ich mal schwanger. Das Kind hab ich verloren, damals, als sie mich fast massakrierten. (Sie zieht die Bluse hoch und zeigt ihre nackte Brust mit tiefen Narben.) Im Nachhinein bin ich froh. Wie, wenn ich noch mehr Kinder hätte? Kinder sind eine Plage. Wenn sie schreien, macht mich das ganz verrückt.«
Junge: »Das sagt sie, die drei Kinder hat. Und jetzt erwartet sie das vierte.«
Azucena: »Ich habe sehr früh mit dem Kinderkriegen angefangen. Hab nicht darüber nachgedacht. Dass ich schwanger werden könnte, kam mir nicht in den Sinn. Tja, mit 13 Jahren macht man alles wie im Spiel. Ein kurzes Abenteuer im Versteck, und schon bekam ich Stiven. Dann Kevin. Und Laura, die wird bald vier.«
Junge: »Obwohl sie drei Kinder hat, passt sie nicht auf. Sie benutzt keine Verhütungsmittel. Sie isst, was sie gerade kriegen kann. Und sie nimmt weiter Drogen. Sie denkt nicht dran, zum Arzt zu gehen, obwohl sie das nichts kosten würde.«
Azucena: »Was sollte ich dort? Ich gehöre nicht zu denen, die dauernd krank sind. Ich muss auch nicht fortwährend kotzen und hab nicht die absonderlichen Lüste der Schwangeren. Wenn es mit der Geburt einmal so weit ist, gehe ich zu meiner Großmutter.«
Junge: »Ha, so macht sie es: Sie lässt andere für ihre Kinder sorgen!«
Azucena: »Ich hab‘ immer gesagt, dass ich keine von denen bin, die Kinder großziehen. Wenn sie anfangen, nach Milch zu schreien, dann geht mir das auf die Nerven. Deshalb gehe ich rechtzeitig zu meiner Oma und bringe die Kinder bei ihr unter. Nach ein paar Tagen mache ich mich aus dem Staub und gehe wieder in die Stadt.«
Junge: »Diese schwarze Schlampe, der ist alles egal, sie kümmert sich um nichts!«
María-Isabel
Sie ist siebzehn Jahre alt, klein, hat fein geschnittene Gesichtszüge. Ihre honigfarbenen Augen schlägt sie selten auf. Ihre Fingernägel sind lang, kunstvoll geformt und metallic-blau gefärbt. Die Ohrläppchen sind mehrfach durchstochen, daran baumeln lange Gehänge. Sie passen gut zu dem Schmuck, den sie an Hals und Handgelenken trägt. Ihr Körper ist so schmächtig wie der eines Kindes. Ihre Hände zittern ein bisschen, wenn sie gerade nicht an der Kleberflasche schnüffelt.
Mit fünf ist María-Isabel von zu Hause weggelaufen. Ihr Stiefvater schlug sie oft. Sie kam in eine Einrichtung von Ordensschwestern. Dann landete sie auf der Straße. Sie wohnt jetzt, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Cindy, im selben Zimmer eines Stundenhotels. Regelmäßig trifft sie ihre Mutter. Die steht tagsüber in der Straße zwischen El Prado und der Kathedrale. Alle drei konsumieren Drogen. Wenn María-Isabel mehr verdient als ihre Mutter, gibt sie ihr etwas ab.
María-Isabel hat einen Sohn, Miguel Ángel, drei Jahre alt. Die Großmutter kümmert sich um ihn. María-Isabel ist wieder schwanger geworden, sie ist jetzt im vierten Monat. Kinder sind für sie wie ein Gottesgeschenk. Schwanger sein und ein Kind gebären – das ist das Schönste auf der Welt, sagt sie. Sie mag es, wenn ihre Kunden ihren anschwellenden Bauch bewundern.
María-Isabel: Was mir panische Angst macht, ist die Nacht auf der Straße. Um das Zimmer bezahlen zu können, muss ich arbeiten. Auch jetzt empfange ich Männer. Auf der Straße überleben, ist nicht leicht. Die Leute, die Drogen nehmen und stehlen, können einen im Handumdrehen umbringen.
Frage: Wenn es so schlimm ist, warum gehst du nicht nach Hause, wenigstens so lange, bis das Kind geboren ist?
María-Isabel: Die Gegend, wo meine Familie herstammt, ist sehr gefährlich. Die Jugendbanden drangsalieren die Leute. Dauernd wird jemand erschossen. Die Jungen haben nichts zu tun, hängen auf der Straße herum, handeln mit Drogen und vergewaltigen die Mädchen.
Frage: Kennst du Einrichtungen für schwangere Mädchen und junge Mütter hier in der Stadt?
María-Isabel: Wenn man 17 ist, ist es schwierig, reinzukommen. Als ich kleiner war, war das leichter. Mit fünf war ich bei Schwestern. Mit 14 haben sie mich vor die Tür gesetzt.
Frage: Und jetzt bist du wieder schwanger.
María-Isabel: Kinder sind ein Geschenk. Die kleinen Püppchen muss man einfach liebhaben, versorgen und schützen. Ich bete zum lieben Gott, dass er mein Kind gesund auf die Welt kommen lässt und dass nichts an ihm fehlt. Die größte Freude bei der Geburt ist der Moment, wenn man das Kind zum ersten Mal schreien hört und wenn sie es einem zeigen. Zu wissen, dass es gesund ist – das macht mich glücklich.
Leydi
Sie hat einen Freund. Der ist aber nicht der Vater des Kindes, das sie nächsten Monat zur Welt bringen wird. Sie hat zwei Jahre bei den Guerilleros der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) gelebt. Mit elf Jahren schickte sie ihre Mutter zum Arbeiten aufs Land, wo ihr Vater Koka anbaute. Dort lernte sie die Jungs in den flotten Uniformen kennen. Eines Tages brannte sie mit einem von ihnen durch. Er brachte sie in ein Lager im Urwald. Das Geld, das ihr die Leute von den FARC versprachen, sah sie nie. Sie war das kleinste unter den Mädchen, musste dennoch dieselben Arbeiten verrichten wie die anderen: kochen, spülen, aufräumen. Sie lernte, mit Waffen umzugehen, und sie sah, wie geschossen und getötet wurde.
Mit zwölf wurde sie schwanger. Aber die FARC dulden das nicht. Das Kind musste abgetrieben werden. Sie war dreizehn, als sie zusammen mit ihrem Freund floh. Ihre Mutter schickte sie zu einem Onkel in die Stadt, der handelte mit Drogen. Er versuchte, sie zu vergewaltigen. Als sie sich wehrte, zeigte er sie bei der Polizei an und denunzierte sie als Ex-Guerillera.
Seit sieben Monaten lebt Leydi nun mit einem neuen Freund zusammen. Er behandelt sie gut und will für das Kind sorgen, auch wenn er nicht der Vater ist. Leydi achtet auf ihr Äußeres: Bloß nicht dick werden, lieber hungern. Später einmal möchte sie zur Schule gehen, einen Abschluss machen, einen richtigen Beruf ergreifen und eine gute Mutter werden.