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4 Flüchtlingskinder

Azucena stammt aus Urabá. Dort im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Panama leben fast nur Schwarze. Es ist die Region des Bananenanbaus, der Guerilla, der Paramilitärs und des Drogenschmuggels in Richtung USA. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts starben dort die meisten Menschen in Kolumbien durch blutige Gewalt in unzähligen Massakern. Urabá war die Hochburg der 1985 gegründeten linken Bewegung UP (Unión Patriótica), in der sich Gewerkschafter, Campesinos (Bauern) und Sympathisanten legaler, gewaltfreier Gruppen zusammenfanden. Ende der 80er-Jahre ermordeten staatliche Sicherheitskräfte und Para­militärs mehr als 3000 UP-Mitglieder, darunter auch zwei Präsidentschaftskandidaten. Die Region sollte von Guerilleros, linksgerichteten Bauernorganisatio­nen und Gewerkschaften gesäubert werden. Seither haben die »Paras« das Sagen in Urabá. Die UP hat sich inzwischen aufgelöst. Flüchtlingsströme ergossen sich nach Süden. Vor allem in Medellín wuchern seither die Slums noch rascher als üblich die Berge hinauf.6

6 Vgl. Secretariado Nacional de Pastoral Social. Sección de Movilidad Humana (ed.): Desplazamiento forzado en Antióquia 1985–1998. Aproximaciones teóricas y metodológicas, Bogotá 2001, insbes. Band 0 und Band 9.


Nicht nur Azucena, auch die anderen Straßenkinder und -jugendlichen des Rojas-Pinilla-Platzes sind Flüchtlinge und Vertriebene. Sie wurden von ihren Familien verstoßen oder flohen aus unzumutbaren Verhältnissen. Ihre Eltern wohnen (vorausgesetzt sie leben noch) in einem der Slums, die sich wie ein Würgegürtel um die Metropole herumlegen. Früher waren sie Campesinos. Sie mussten Grund und Boden, Hab und Gut von einem auf den anderen Tag zurücklassen. In der Stadt suchten sie Schutz und eine bessere Zukunft.

Carlos Mário: Leben mit den Gangs1

1 Nach: www.strassenkinderreport.de

Carlos sagt: Die Autodefensas (Selbstverteidigungsgruppen) halten sich in meinem Viertel meistens raus. Die Leute, die hier das Sagen haben, sind die Chefs der Gangs. Die lassen sich von niemandem auf der Nase herumtanzen. Carlos sagt, er sei immer in einer Gang gewesen, sein ganzes Leben lang. Wenn du in so einem Viertel aufwächst, dann gehörst du automatisch dazu. So einfach ist das, sagt Carlos.

Carlos sagt, er sei eines Tages aus der Gang ausgestiegen. Mein Mädchen ist schwanger geworden. Ich habe eine kleine Tochter, und für die muss ich sorgen. Wir wohnen bei der Schwiegermutter. Carlos sagt: Ich hab dem Chef meiner Gang gesagt, dass ich draußen bin. Und ich hab dem Chef der Gang, mit der wir verfeindet sind, gesagt, dass ich draußen bin. In der Gang habe ich einfach zu wenig verdient. Hier auf dem Platz verdiene ich mehr. Und warum soll ich mich für weniger Geld erschießen lassen? Ich bin draußen, basta. So einfach ist das, sagt Carlos.

Carlos sagt: Es ist schwer, heutzutage noch Geld in einer Gang zu verdienen. Die Milizen der Paramilitärs haben das Monopol des Drogenhandels an sich gerissen. Also haben die Gangs die Milizen umgebracht. Oder die Milizen haben die Arbeit der Regierung gemacht und die Gangs umgebracht. So einfach ist das, sagt Carlos.

Carlos sagt, dass in den Vierteln, die die Paracos kontrollieren, keiner mehr Drogen anfasst. Wer beim Kiffen erwischt wird, wird in einen dunklen Raum gesperrt und bekommt eine »Therapie«. Der Raum ist so dunkel, dass der arme Hurensohn nicht mal sieht, von wem er die ganzen Schläge und Tritte abbekommt. So einfach ist das, sagt Carlos.

Carlos sagt: Hier auf der Plazoleta Rojas Pinilla gibt es nicht weniger Konflikte als in meinem Viertel. Es ist nicht so einfach hier, sagt er. Er hat keinen festen Verkaufsstand. Er schiebt seinen Wagen mit den großen grünen Avocados dorthin, wo gerade Platz ist.


Straßenkinder sind Flüchtlinge,Vertriebene vom Land, aus Randbezirken der Stadt, aus ihren Familien Geflüchtete. Straßenkinderschicksale sind Flüchtlingskinderschicksale. So ist das in Kolumbien. Dasselbe gilt für einen Großteil der obdachlosen Kinder und Jugendlichen in anderen Weltgegenden.


Die kolumbianischen Flüchtlingskinder reihen sich ein in die unermesslich große Zahl der Vertriebenen der Welt. Von ihnen ist die Hälfte minderjährig. 12,5 Mil­lionen Kinder und Jugendliche sind weltweit auf der Flucht. Viele haben unterwegs ihre Eltern verloren, sie müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. ­Kolumbien ist ein besonders drastisches Beispiel für das Flüchtlingselend der Welt.


Menschlicher Abfall

Flüchtlinge sind menschlicher Abfall, der dort, wo er eintrifft und sich ­vorübergehend aufhält, keine nützliche Rolle einzunehmen und in der ­neuen sozialen Umgebung weder die Absicht noch die realistische Aussicht auf Assimilation oder Eingliederung hat; es gibt keine Aussicht auf Rückkehr oder ein Fortkommen vom Müllplatz, ihrem derzeitigen Aufenthaltsort (…).

Das Hauptkriterium der Standortwahl für auf Dauer angelegte provisorische Lager ist eine Distanz, die groß genug ist, um den giftigen Ausfluss sozialer Zersetzung von den Wohnorten der einheimischen Bevölkerung fernzuhalten. Außerhalb des Lagers sind Flüchtlinge ein Hindernis und ein Ärgernis, innerhalb dessen sind sie vergessen. Indem sie dort festgehalten und alle Schlupflöcher verstopft werden, indem die Trennung endgültig und irreversibel gemacht wird, wirken »das Mitleid einiger und der Hass anderer« zusammen und erzeugen den gleichen Effekt: Abstand gewinnen und Abstand halten.

Zygmunt Bauman1

1 Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne (a. d. Englischen von Werner Roller), Hamburg 2005, S. 110f.


Die Zahl der Vertriebenen in Kolumbien wird auf 4,9 bis 5,5 Millionen Personen geschätzt. Damit ist es das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen der Welt.7 Mehr als eine Million sind Minderjährige,8 die zusammen mit ihren Familien aus ihrer Heimat vertrieben wurden. 90 Prozent des bewohnten Territoriums Kolumbiens ist aktuelles oder historisches Flüchtlingsland, Vertreibungsland. Die sozialen Folgen der Vertreibungen kann man in den Metropolen, die individuellen Auswirkungen auf der Plazoleta Rojas Pinilla und der Avenida Prado beobachten.


7 El Tiempo, 29. April 2013.

8 Vgl. Consultoría para los Derechos Humanos y el Desplazamiento, CODHES.

Die gewaltsamen Vertreibungen, ausgelöst durch Drohungen, Entführungen und Massaker von Guerilleros, Paramilitärs und Drogenhändlern, dauern in Kolumbien seit Jahrzehnten an. Alles dreht sich um den Besitz von Grund und Boden, die ökonomische Ressource, die die Kontrolle über Drogenanbau und Waffenschmuggel ermöglicht. Opfer der blutigen Auseinandersetzungen sind vor allem Bauern und Kolonisten, aber auch Angehörige der ethnischen Minderheiten, indigene (comunidades indígenas) und afrokolumbianische Gemeinschaften (comunidades afrocolombianas). Einzelne, Familien und ganze Clans fliehen in die Städte oder über die Grenzen des Landes und suchen in Ecuador, Venezuela oder Panama Schutz.


Für die betroffenen Kinder ist die Erfahrung von Vertreibung, Heimatlosigkeit und Kulturverlust traumatisch. Die Flucht bricht ihre Schullaufbahn unversehens ab, viele können später keine neue Schule finden. Den Flüchtlingsfamilien fehlt es in der Stadt meist an angemessenem Wohnraum, ausreichender Nahrung, Bekleidung und medizinischer Versorgung. Den Erwachsenen droht dauerhaft Arbeitslosigkeit. Mit staatlicher Unterstützung können die wenigsten rechnen.

Unter der Last von Armut, Entbehrung und Aussichtslosigkeit zerbrechen ­viele Familien. Die Kinder und Jugendlichen, die zum Überleben selbst beitragen müssen, suchen ein Auskommen auf den Straßen, wo viele dann früher oder später für immer bleiben und den Kontakt zu ihren Familien nach und nach verlieren. Im Unterschied zu den Kindern und Jugendlichen der Straße in früheren Epochen, die vor den Schlägen, der Ausbeutung und dem Missbrauch durch ihre eigenen Verwandten von zu Hause geflohen sind, tragen heute viele der Jungen und Mädchen der Straße, die aus Flüchtlingsfamilien stammen, ein tiefes Verlangen nach der verlorenen Heimat in sich und sind begierig, wieder in eine Schule aufgenommen zu werden, um sich weiterzubilden.

Weitere Informationen über Vertreibung und Flüchtlinge in Kolumbien:

  http://www.radiosantafe.com/2008/04/16/alarmante-cifra-de-desplazados-en -colombia-revela-acnur/

  http://news.bbc.co.uk/hi/spanish/specials/2005/colombia_desplazados/ newsid_4237000/4237043.stm

  http://www.elpregon.org/elmundo/84-americalatina/374-desplazados-en-colombia -los-mas-altos-en-los-ultimos-veinte-anos-

  http://www.ub.es/geocrit/sn-94-37.htm

  http://www.acnur.org/biblioteca/pdf/3822.pdf

  http://www.derechos.org/nizkor/colombia/doc/desplazmsf.html

Bildung gegen den Strich - eBook

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