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Migrationsforschung in Südtirol

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Die Erfassung Südtirols als Einwanderungsland hat sich gerade deshalb in der Südtiroler Geschichtsschreibung noch kaum etabliert und historische Studien zur Südtiroler Einwanderungsgeschichte beschränkten sich bis dato auf die Auswertung statistischer Materialien, wie etwa Rainer Girardis geschichtlicher Abriss zur Migration in Südtirol.36 Dieser ist Teil einer umfassenden Studie37 der European Academy of Bozen/Bolzano (EURAC)38, die 2011 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Migrant*innen in Tirol (ZeMIT)39 herausgegeben wurde und zum ersten Mal das vernachlässigte Thema der Migration in Südtirol und Tirol umfassend aufgegriffen hatte. Dabei fasst das Sammelwerk eine Reihe von Aufsätzen zusammen, die sozial-, politik- sowie rechtswissenschaftliche Zugänge zur Migration in Tirol und Südtirol bieten. Die historische Dimension bleibt aber auch hier ein Randthema. Gleiches gilt für das im Jahr 2013 herausgegebene Buch „Migrationspolitik und Territoriale Autonomie. Neue Minderheiten, Identität und Staatsbürgerschaft in Südtirol und Katalonien“40, herausgegeben von Roberta Medda-Windischer und Andrea Carlà, sowie die Studie „Standbild und Integrationsaussichten der ausländischen Bevölkerung Südtirols. Gesellschaftsleben, Sprache, Religion und Wertehaltung“41, alles Forschungen der EURAC. Diese Publikationen stellen die Migrationspolitik, rechtliche Grundlagen, das Verhältnis zu den autochthonen Minderheiten in Südtirol, sozialwissenschaftliche Studien sowie grenzübergreifende Vergleiche in den Vordergrund, der historische Blick auf das Thema Migration und Südtirol wird jedoch trotz der erstaunlichen Vielfalt an Studien und Untersuchungen weitgehend unberücksichtigt gelassen.

Eine Langzeitstudie (1992–2012) und darüber hinaus grenzübergreifende Vergleiche bietet hingegen die 2016 an der University of Leicester erschienene Dissertation von Verena Wisthaler42, ebenfalls Mitarbeiterin des Instituts für Minderheitenrechte der EURAC. In ihrer Arbeit untersucht Wisthaler die Identitätskonstruktion regionaler und nationalistischer Parteien in Korsika, Südtirol, Schottland, des Baskenlandes und Wales und fragt nach der Auswirkung von Zuwanderung auf die Bildung von kollektiven Identitäten in Minderheitengebieten. Als Basis dienten der Autorin Parteiprogramme, Parlamentsdebatten, thematische Dokumente zur Einwanderung, Integrationspolitiken sowie Gesetze. Der lange Untersuchungszeitraum erlaubte es Wisthaler, auf Veränderungen des politischen Diskurses im Laufe der Zeit einzugehen und somit historische Entwicklungen aufzuzeigen.

Auch mit Identitätsbildungen, internationalen Vergleichen sowie der Frage nach Abgrenzung und Inklusion von Migrant*innen in Minderheitengebieten (Südtirol und Katalonien; Südtirol und Québec) beschäftigen sich Christina Isabel Zuber43 sowie Lorenzo Piccoli.44 Die Befunde internationaler Vergleiche können wie folgt zusammengefasst werden: Während in Südtirol und Korsika Migration als ein überwiegend negatives Phänomen wahrgenommen wird, überwiegen im Baskenland, in Wales und Schottland positive Diskurse. Zuwanderung wird dort – berücksichtigt werden müssen allerdings die Publikationsdaten der Untersuchungen, die vor der letzten Massenmigration 2015 liegen – als Chance und Bereicherung erkannt, während in Südtirol und Korsika Migrant*innen problematisiert sowie als Belastung und Gefahr für die öffentliche Sicherheit, das Sozialsystem und die nationale Identität wahrgenommen werden.45 Der Vergleich mit Katalonien hat darüber hinaus gezeigt, dass Migrant*innen dort als eine Chance für Unabhängigkeitsprojekte wahrgenommen werden, während dies in Südtirol nicht der Fall ist.46 In Québec und Südtirol überwiegt die Sorge um die nationale Identität, womit die Anpassung von Migrant*innen an die eigene Minderheitengruppe – besonders durch das Erlernen der Sprache – als überlebenswichtig erachtet wird.47

Keine dieser Studien vergleicht jedoch die Wahrnehmung von Migration der verschiedenen Sprachgruppen innerhalb Südtirols. Gerade dieser Vergleich ist jedoch von Bedeutung, da er – obwohl nicht international, schließlich aber interlingual und verschiedene ethnische Gruppen betreffend – Denkmuster einer sich als gespalten präsentierenden Südtiroler Bevölkerung offenlegen kann.

Mit Einwanderung in Südtirol allgemein beschäftigen sich die Werke „Einwanderungssituation in Südtirol. Analyse im Rahmen des Projektes ‚Sprach- und Kulturvermittlung an Migrant/innen‘“48 von Elisabeth Ramoser aus dem Jahr 2002 und das von der Caritas Diözese Bozen-Brixen herausgegebene Band „Südtirol wird bunter. Hintergründe und Informationen zu Einwanderung und Integration“49 (2008) von Sabine Trevisani-Fernati.

Ein Buch, in dem Stimmen von Migrant*innen in Südtirol die Grundbasis bilden, erschien außerdem 2009 in Brixen. Fernando Biague50, der Autor des Buches, hat in diesem Werk fünf Lebensgeschichten und ihre Migrationsprojekte genauer unter die Lupe genommen und räumt dabei gezielt mit Vorurteilen gegenüber Migrant*innen auf. Einen klaren bildungspolitischen und integrationsfördernden Auftrag verfolgt zudem das von Annemarie Profanter51 herausgegebene Buch über Badanti (Pflegekräfte) in Südtirol. Ähnlich wie Biague möchte auch Profanter Migrant*innen mehr Sichtbarkeit verleihen, in dem sie ihre Geschichten und Erzählungen in den Vordergrund stellt. Darüber hinaus sind Publikationen zu nennen, die sich im Speziellen mit dem Thema Migration und Integration in Südtirol auseinandersetzt. So zum Beispiel eine Studie der Landesbeobachtungsstelle52 zur Einwanderung, die die Integration von jungen Migrant*innen in den Fokus stellt oder ein Bericht der Koordinierungsstelle für Einwanderung53 über Zuwanderung und Integration in Südtirol. Ebenfalls entstanden in den letzten Jahren eine Reihe von Diplomarbeiten, die sich der Frage der Integration von Migrant*innen in Südtirol gewidmet haben und dabei politikwissenschaftliche sowie erziehungswissenschaftliche Zugänge bieten.

All diese Studien haben ihren Wert in der Erkenntnis von Gegenwartsphänomenen, in der Erklärung von destabilisierenden Aspekten und im Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Migration. Sie können jedoch – wie bereits erwähnt – keinen Blick auf Migration als zeithistorisches Phänomen schaffen. Publikationen, die aus geschichtlicher Perspektive und mit den Methoden der historischen Disziplin nach Ursachen, Wesen und Veränderung von Migration fragen, stecken noch in den Kinderschuhen. Das seit 2017 abgeschlossene Forschungsprojekt zur Geschichte der (Arbeits-)Migration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut, durchgeführt von der Universität Innsbruck (unter der Leitung von Eva Pfanzelter und Dirk Rupnow) in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Bozen in Brixen (dort mit Teil-Projektleiterin Annemarie Augschöll Blasbichler), ist das erste große Projekt, das das Thema Migration aus zeitgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Die vorliegende Arbeit ging aus diesem Projekt hervor; zwei aus dem Projekt hervorgegangene Publikationen54 fassen außerdem die zentralen Ergebnisse zusammen.

Autochthone Minderheiten und Migrant*innen

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