Читать книгу Künstlerseelen - Saskia Françoise Elvers - Страница 16
Schule
ОглавлениеFür Silvie bricht die letzte Schulstunde an. Lauter dreizehn- und vierzehnjährige Kinder warten auf die Anweisung Namensschilder zu schreiben. Zu Silvies Erstaunen funktioniert alles reibungslos und vergleichsweise ruhig.
„Ich weiß nicht, ob ihr es gestern mitbekommen habt oder ob eure Eltern denken, dass ihr für solche Nachrichten noch zu jung seid - ich dagegen finde, es ist ein guter Einstieg in eine künstlerische Diskussion. Gestern Abend hat ein Regisseur seinen neuen Film präsentiert und in einem Interview vorgeschlagen der Menschheit für einige Zeit die Kunst zu entziehen. Er ist der Auffassung, dass die Menschen kein Gespür mehr für Kunst haben.“
Es wird leise getuschelt und Silvie kann aus den Reihen heraus Edgars Namen hören.
„Was sagt ihr dazu? Was bedeutet Kunst für euch? Wie empfindet ihr sie? Was würde es mit euch machen, wenn man diesen Test durchführen würde?“
Tim Feierabend ist der erste der sich meldet.
„Tim, bitte“, fordert Silvie ihn zum Reden auf, glücklich darüber, dass wenigstens ein Kind den Mut findet den Anfang zu machen.
„Ich habe die Nachrichten gestern gesehen und mich im Internet über Edgar Brandig informiert, um nachzuvollziehen wie er auf so eine Idee kommt. Ich kann ihn verstehen. Nachdem was ich alles gelesen habe, muss er viele negative Kommentare einstecken. Teilweise gab es boshafte Meinungen, die auf seine Person angesetzt waren anstatt auf den Film. Das ist nicht so gut. Filme sind Geschmackssache und wenn ich einen Schauspieler nicht mag, dann sehe ich mir den gar nicht erst an.“
„Darum geht es doch gar nicht bei ihrer Frage, Tim“, schreit ein anderer Junge rein. „Hörst du nicht zu?“
„Das ist wahrscheinlich der Grund, wieso er im Unterricht nie redet“, lacht ein anderer.
Tim schließt den Mund, legt seine Hände ruhig auf dem Tisch ab und starrt beschämt nach unten.
„Da muss ich euch widersprechen. Ich möchte mit euch Diskutieren und Meinungen austauschen. Dazu gehört, dass alles was zu dem Thema beiträgt erwähnt werden kann - besonders wenn es darum geht, seine eigene Meinung zu verdeutlichen. Tim war auf einem guten Weg. Er hat sich mit der Person Edgar Brandig auseinander gesetzt, um dessen Perspektive nachzuvollziehen. Zudem scheint Tim jemand zu sein, der es völlig okay findet, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung sind, richtig?“
Tim nickt stumm.
„Sebastian, wie stehst du zu dem Thema?“, fragt Silvie den Jungen, der Tim unterbrochen hat.
„Naja, also ich würde es ziemlich egoistisch finden, wenn er uns die komplette Kunst wegnimmt. Wenn er nur seine zurückzieht, wäre mir das egal, aber wenn er gleich alles streicht - das geht zu weit.“
„Und wieso?“
„Weil ihn die Kunst anderer nichts angeht. Wenn mir jemand Lieder schenkt und ich die annehme, kann sie mir doch kein Dritter wieder wegnehmen. Das ist Diebstahl!“
Einige Schüler klopfen auf die Tische und brüllen zustimmend. Es wird unruhig in der Klasse.
Erschreckend muss Silvie feststellen, dass Sebastian das Oberhaupt ist und er dadurch die Mehrheit von seiner Meinung begeistern kann. Keiner seiner Anhänger denkt eigenständig weiter, was ein schlechter Grundbaustein für einen Klassenzusammenhalt ist.
„Beleidigungen dulde ich hier nicht“, braust es aus Silvie heraus, während sie lautstark gegen die Tafel schlägt.
Die Jugendlichen zucken zusammen, versteifen sich auf ihren Stühlen und werden mucksmäuschenstill.
„Tim mag vielleicht nicht zu deiner Clique gehören, Sebastian, aber in meinem Unterricht spielen wir nach meinen Regeln, ist das klar? Sonst wirst du schneller von der Schule fliegen, als dir lieb ist - was bedeutet, dass deine Zukunft nicht so rosig aussehen wird. Das gilt übrigens auch für den Rest.“ Ihren bösen Blick lässt sie durch die Klasse schweifen. „Ihr müsst lernen ordentlich zu diskutieren. Besonders in der Kunst ist dies wichtig. Jemand, der andere mit Beleidigungen angreift, macht sich erst einmal selber gesprächsunfähig und schraubt sich gleichzeitig gesellschaftlich nieder. Wer seine Meinung vertreten möchte, muss weder lügen, anderen die Wörter im Mund umdrehen oder beleidigen. Das alles zeugt von Unwissenheit und wenig Intelligenz. Willst du als dummer Mensch durch die Welt laufen, oder gar für solch einen gehalten werden, Sebastian?“
Sebastian schüttelt den Kopf: „Nein.“
„Gut, dann lernt jetzt folgendes - beleidigt, ignoriert oder diskriminiert ihr andere, fällt es auf euch zurück, nicht auf die Person gegen die ihr sichtlich ankämpft. Dumme Menschen helfen, ermuntern euch, reden gegen an oder rächen sich irgendwann. Die klugen Menschen lassen euch im Glauben, dass sie euren wahren Charakter nicht erkannt haben, weil sie wissen, das Leben holt euch wieder ein.
Mit eurem heutigen Verhalten formt ihr eure unvorhersehbare Zukunft, die bereits mit dem morgigen Sonnenaufgang beginnt. Ihr wisst nie wohin euer Weg euch führt, doch ihr könnt heute bestimmen, ob die Personen die euren Weg ein zweites Mal kreuzen, euch in schweren Zeiten ignorieren oder die Hände reichen.
Wenn euch die Kunst eines lehrt, dann das alles Schöne seine Zeit braucht - egal ob aus Menschenhand geschaffen oder von der Natur vorherbestimmt. Bilder brauchen Zeit zum Trocknen und Samen Zeit zum Keimen. Doch das Endresultat wird nie gut sein, wenn man die falsche Grundierung oder nährstoffarmen Boden gewählt hat.
Nun würde ich gerne auf meinen Ausgangspunkt zurückkommen: Wie stehen die anderen zu dem Thema? Sebastian würde sich bestohlen fühlen, was ein logischer Gedanke ist - Tim dagegen würde die Künstler verstehen und womöglich lernen damit zu leben. Was müsste passieren, damit ihr euch nicht bestohlen fühlt, sondern lernt damit zu leben?“
Ohne ein vorheriges Handzeichen antwortet ein Mädchen namens Ella: „Wenn wir darüber abstimmen.“
Silvie wirkt beglückt. „Eine demokratische Abstimmung würde dazu beitragen, dass jeder eingreifen könnte. Für wen wäre das in Ordnung - bitte mal ein Handzeichen.“
Überraschenderweise meldet sich die gesamte Klasse.
„Okay, also wenn die Mehrheit dafür stimmen würde, wäre das für alle in Ordnung?“
Die Köpfe der Schüler wackeln unschlüssig hin und her ohne eine klare Meinung abzugeben, obwohl ihre Hände vor wenigen Sekunden noch sicher in der Luft standen.
„Sebastian, wäre es für dich in Ordnung?“ Silvie sieht ihn freundlich an, damit die restliche Angst verfliegt, die sie durch ihren Schlag gegen die Tafel ausgelöst hat.
„Naja, es wäre zwar nicht schön, aber da wir alle abgestimmt haben, müsste ich mich dem annehmen.“ Sebastian zuckt verunsichert mit der Schulter.
„Alter, stimmt doch nicht - ich würde dagegen angehen. Demonstrieren, oder so. Wenigstens meinen Besitz will ich behalten. Stell dir mal vor, die nehmen dir dein Handy weg und löschen alle Lieder - dann hast du nichts mehr“, pöbelt Sebastians Sitznachbar Marko.
„Man könnte doch selber Musik machen“, klingt sich Tim in das Gespräch mit ein.
„Ruhig dahinten“, lenkt Marko ab und kassiert von Silvie den nächsten bösen Blick.
„Er hat Recht. Man könnte selber Musik machen, dass wäre ja nicht verboten“, sagt Ella.
„Wie ist eure Meinung?“, fragt Silvie begeistert den Rest der Klasse.
„Das wäre super. Mädchen mögen es, wenn Jungs ihre künstlerische Ader zeigen“, freut sich eine Blondine hinten in der Ecke namens Sonja.
„Wir könnten Musen werden“, fügt ihre beste Freundin hinzu, deren Namensschild Silvie nicht lesen kann, da die Schrift zu klein ist.
Die Jugendlichen werden erneut unruhig und Silvie blickt auf ihre Uhr. Da ihre neue Kunstklasse gerade einen harmonischen Abschluss gefunden hat, entschließt sie sich dazu den Unterricht früher zu beenden.
„In der Kunst geht es darum sich gegenseitig zu Inspirieren und voneinander zu lernen. Das bedeutet, dass auch die Musen aus der letzten Reihe ab der nächsten Stunde kreativ werden müssen. Nur wer sich fallen lässt und etwas mit neuen Augen betrachtet, wird wahre Schönheit erkennen und im Stande sein sie selber zu erschaffen. Mit diesen Worten, Schluss für heute. Vielen Dank für eure Teilnahme am Gespräch. Packt eure Sachen und verschwindet leise nach Hause.“
Als jemand die Klassentür öffnet, wird es schlagartig still und alle huschen leise in die Freiheit.