Читать книгу Künstlerseelen - Saskia Françoise Elvers - Страница 5
Familie Brandig
ОглавлениеAls sie sich im Spiegel betrachtet, kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie für ihr Alter relativ jung aussieht. Das rote Kleid steht ihr hervorragend, obwohl ihr viele davon abgeraten haben. Unter anderem ihre Agentin, die ein Jahr jünger ist und momentan damit kämpft fünfzig Jahre alt zu sein.
Im Gegensatz zu ihrer Agentin kommt Julia Horsch mit ihrem Alter gut zurecht. Der Kopf ist jung geblieben und das strahlt sie auch aus. Eine Frau, die weiß, dass sie noch genug Zeit hat, die Welt zu verändern.
Elegant steigt Julia in die schwarze Limousine, welche vor dem Hotel auf sie wartet. Da sie kein großes Interesse an Automobilen hat, erkennt sie anhand der Automarke nicht, ob sie zu den gehobenen Schauspielerinnen gehört. Alles was sie weiß ist, dass die Fahrer stets freundlich sind, egal, mit welchem Auto sie vorgefahren wird.
Statt sich mit dem Fahrer zu unterhalten oder auf ihrem Handy rumzutippen, geht sie im Kopf die Posen durch, die ihre Tochter ihr vor wenigen Tagen beigebracht hat.
Während sie sich aus dem Auto schlängelt, ist das Blitzlichtgewitter am roten Teppich in vollem Gang. Vor lauter Aufregung blickt Julia im falschen Moment zu einer blitzenden Kamera, woraufhin gelbe Glitzerpunkte vor ihren Augen zu tanzen beginnen. Dennoch erkennt sie, wer ihr wenige Meter entfernt zuwinkt - Edgar Brandig. Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor und ein wunderbarer Mann. Genauer gesagt: ihr Mann.
Nachdem Julias erste Ehe in die Brüche ging, glaubte sie nicht mehr daran einen passenden Mann zu finden. Bis Edgar in ihr Leben trat.
Er ist vom Leben gezeichnet, musste selber viel durchmachen, aber genau das macht seinen Charakter aus - er weiß was er will und arbeitet hart dafür. Manchmal erwischt sich Julia sogar dabei, wie sie sich wünscht, ihr einziges Kind - eine Tochter - würde von Edgar stammen.
„Frau Horsch, schauen Sie bitte hierher?“
„Julia, mehr nach links.“
„Julia Horsch, hier her ... nein hier ... Mensch, hier her. Ich will ein Foto.“
„Frau Horsch, können Sie nochmal in meine Kamera lächeln? Geht es auch frecher?“
„Stellen Sie sich vor das Filmplakat und posen Sie wie dort, ja?“
Bei so vielen Stimmen weiß Julia nicht, wo sie zuerst hinsehen soll. Desto mehr sie sich auf einen Fotografen konzentriert, desto aggressiver werden die anderen. Die Stimmen werden schroffer und erinnern sie wieder daran, wieso sie zum Theater gegangen ist.
Bereits als Kind bekam sie Nebenrollen angeboten und spielt daraufhin bei einigen interessanten Filmen mit. Da die Bezahlung gering ausfiel, lud man Julia zu den Premieren ein, wo sie mit den großen Berühmtheiten über den roten Teppich laufen durfte.
Diese Momente hat sie sehr genossen, obwohl sie nur für Gruppenfotos ins Bild geschoben wurde. Dennoch haben ihr diese wenigen Minuten einen Einblick in die turbulente Welt eines Filmschauspielers ermöglicht. Bemerkenswert fand sie, wie freundlich die Darsteller blieben und sämtliche Kommentare seelenruhig über sich ergehen ließen.
Ab diesem Tag stand für Julia fest, dass sie zum Theater geht. Diesen ganzen Trubel braucht sie nicht. Ihr reicht es, nach jeder Szene einen kurzen und am Ende des gesamten Stücks einen längeren Applaus zu bekommen. Sobald die Zuschauer das Theater verlassen haben, kann sich Julia in Ruhe auf den Heimweg machen, ohne ständig angesprochen zu werden. Es kommt nur sehr selten vor, dass Menschen auf sie warten und um ein Foto oder Autogramm bitten. Aufdringlich oder unfreundlich war dabei allerdings noch niemand.
Das sich Julia jetzt das erste Mal aus ihrer Komfortzone bewegt, hat sie nur Edgar zu verdanken. Er wollte unbedingt, dass sie in seinem Film mitspielt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Premiere so ein Ausmaß nehmen würde, obwohl sie die Medienpräsenz ihres Mannes sehr gut kennt.
Nachdem die Glitzerpunkte vor ihren Augen wieder verschwunden sind, sieht Julia kurz zu ihm hinüber, in der Hoffnung ihm einen hilfesuchenden Blick zuwerfen zu können, doch Edgar ist bereits in einem Interview vertieft.
Erneut ruft sie sich die Posen und die Worte ihrer Tochter in Erinnerung: „Immer schön lächeln und am besten von rechts nach links alle Fotografen abarbeiten. Sobald du links angekommen bist, winkst du kurz und gehst dann weiter zum nächsten Punkt.“
Julia atmet einmal tief ein und arbeitet sich dann über den roten Teppich.