Читать книгу Vom Glück einen Vogel am Gesang zu erkennen - Simon Barnes - Страница 10

DER ZAUNKÖNIG

Оглавление

Ein milder Wintertag. Die Sonne hat noch kaum Kraft, es zeigen sich aber schon Schatten am Boden. Sie sind gut gelaunt, denn dieser Tag verheißt das Ende des Winters. Sie hören ein Rotkehlchen mit schöner Stimme, das genauso euphorisch auf das herrliche Wetter zu reagieren scheint wie Sie. Und dann hören Sie noch einen anderen Gesang. Erstaunlich laut und ungefähr auf Kniehöhe.

Das ist ein Zaunkönig. Eine schnelle Abfolge unterschiedlicher Töne, auf die immer wieder ein lauter, heftiger Triller folgt. Wenn Sie Ihre Zunge von hinten gegen die Zähne schnalzen lassen, als wollten Sie einen Presslufthammer imitieren – dann wissen Sie, wie der Zaunkönig ruft. Der Zaunkönig gehört zwar zu den kleinsten Vögeln unseres Landes – in Ihre Handflächen passen locker ein Dutzend oder mehr –, aber wenn er singt, wird er richtig laut. Wer schon mal einen Zaunkönig mit aufgestelltem Schwanzgefieder hat singen sehen, der hat sich sicher gewundert, dass all die Energie, die er in seinen Gesang steckt und die seinen ganzen Körper und die Flügel erzittern lässt, ihn nicht zerreißt.

Den Triller am Ende des Liedes sollte man sich gut merken. Wer ihn einmal wahrgenommen hat, wird ihn immer wieder erkennen. Das Problem daran ist nur, dass der Zaunkönig ihn nicht immer vollführt. Vor allem in den Wintermonaten, wenn er also nicht gerade dabei ist, ein Revier zu gründen, lässt er ihn gerne weg. Dafür fängt er schon früh im Jahr an zu singen und reagiert auf die verheißungsvollen Luftveränderungen.

Wenn Sie also im Winter ein lautes und schrilles Lied hören, das nicht von einem Rotkehlchen stammt, dann halten Sie kurz inne und hören Sie genau hin. Wahrscheinlich wird bald der Triller folgen und spätestens dann wissen Sie, wer der Urheber ist. In der Folge werden Sie das Lied schon bei den ersten Tönen erkennen, nicht zuletzt auch daran, woher diese kommen: Kniehöhe plus laut macht Zaunkönig.

Wer dem Zaunkönig gelauscht und sich dessen Gesang eingeprägt hat, wird ihn vermutlich etwas, sagen wir mal, eintönig finden. Zumindest nicht so, dass es einen umwirft. Ein paar schwingende Töne, dann der Triller – und … ja … das war’s. Mechanisch, monoton, fantasielos. Dennoch steckt hinter diesem kurzen explosiven Lied ein großes Mysterium.

Nimmt man den Gesang des Zaunkönigs auf und spielt ihn deutlich verlangsamt ab, dann stellt man fest, dass er anders klingt und auch deutlich komplexer ist, als man zunächst meinte. In ornithologischen Kreisen hat die verlangsamte Wiedergabe von Vogelgesang in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es ist, als würde man das Lied unter ein Mikroskop legen. So entdeckt man, dass ein Vogellied viel mehr enthält, als man meinen würde oder herausgehört hat. Ich habe ein Zaunköniglied, das ursprünglich 8,25 Sekunden dauerte, in einer verlangsamten Wiedergabe von 66 Sekunden gehört. Die Veränderung war verblüffend: Inmitten der schnellen Töne offenbarte sich ein süßes, gemächliches melodiöses Muster. In jenem Lied sang der Zaunkönig unglaubliche 103 Töne oder anders gesagt: Er sang mit einer Geschwindigkeit von 740 Noten pro Minute. Für einen Menschen absolut unerreichbar. Kein Wunder, dass der Mensch all diese verschiedenen Töne auf die Schnelle nicht unterscheiden kann. So fein ist unser Gehörsinn dann doch nicht.

Aber kann ein Vogel diese vielen Töne unterscheiden? Wahrscheinlich schon. Was sollten wir sonst auch annehmen, denn irgendeinen Grund muss dieser Wasserfall an Tönen ja haben. Die Schwarzkehl-Nachtschwalbe, ein in Amerika beheimateter Vogel, ist berühmt für ihren weit tragenden Ruf, der aus drei Tönen besteht. Vermeintlich, denn bei der verlangsamten Wiedergabe ihres Liedes stellte man fest, dass der Vogel in Wahrheit fünf Töne singt.

Die Spottdrossel ahmt den Gesang zahlreicher anderer Vögel gerne nach, und dabei ist das Lied der Schwarzkehl-Nachtschwalbe einer ihrer Favoriten. Wird das von der Spottdrossel imitierte Lied der Nachschwalbe verlangsamt wiedergegeben, stellt man verblüfft fest, dass auch sie fünf Töne singt. Anscheinend muss man also ein Vogel sein, um das Lied eines anderen Vogels vollends verstehen und schätzen zu können. Vogellieder sind deutlich komplexer und differenzierter, als wir Menschen es wahrnehmen können, und so bleibt uns nur, unser Bestes zu versuchen.

Vom Glück einen Vogel am Gesang zu erkennen

Подняться наверх