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WELCH EIN REPERTOIRE!

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Je besser das Lied, umso attraktiver der Sänger: Weibchen fliegen auf Männchen mit einem großen Liedrepertoire. Das trifft auf die Kohlmeise zu, die mindestens ein halbes Dutzend verschiedene Lieder beherrscht, und auch auf die Singdrossel, die über mehr als 200 Lieder verfügt. Das gilt für die Nachtigall, deren Repertoire sogar mehr als 300 Lieder umfasst, und erst recht für die nordamerikanische Rotrücken-Spottdrossel, die über 2000 verschiedene Lieder kennt – Weltrekord! Vorausgesetzt, man lässt den Schilfrohrsänger außer Acht, denn der singt eine Sequenz kein zweites Mal in seinem Leben, egal wie alt er wird. Als Wissenschaftler weiblichen Schilfrohrsängern aufgenommenes Liedgut männlicher Schilfrohrsänger vorspielten, war das Ergebnis eindeutig: je größer das dargebotene Repertoire der Männchen, desto stärker die Reaktion der Weibchen.

Genau an diesem Punkt wird die Wissenschaft komplex. Gesicherte Fakten lassen sich nicht so einfach gewinnen. Ein großes Repertoire lässt auf einen älteren Vogel schließen, denn die Lieder wollen ja erst erlernt werden. (Umgekehrt hat sich bei einigen Arten auch gezeigt, dass Vögel mit kleinerem Repertoire weniger erfolgreich sind und jünger sterben.) Ältere Vögel haben per Definition mehr Erfahrung: Sie kontrollieren daher ein besseres Revier als jüngere Artgenossen und sind in der Lage, besser für ihren Nachwuchs zu sorgen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der ältere Vogel mehr Junge großzieht als ein jüngeres, unerfahreneres, schwächeres Männchen.

Stare verteidigen ihr Revier nicht, nur ihr Nisthöhle. Aber, wie wir noch sehen werden, ist das Männchen ein ausgezeichneter Alleinunterhalter und großer Imitator und kann sich mit großem Repertoire brüsten. In Ermangelung territorialer Vorteile bevorzugen Weibchen diejenigen Sänger, die das größte Repertoire zu bieten haben.

Wenn man eine Kohlmeise aus ihrem Revier holt und dieses anschließend mit ihrer Stimme beschallt, bleibt das Revier zumindest eine Weile unbesetzt, wie wir bereits gesehen haben. Festgestellt wurde dabei aber auch noch etwas anderes: Die Wahrscheinlichkeit, dass das Revier neu besetzt wird, sinkt mit dem Umfang des Repertoires, das aus den Lautsprechern ertönt – und somit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Revier länger sicher bleibt. Ein großes Repertoire zieht Weibchen an und wehrt andere Männchen ab.

Mit anderen Worten, je kreativer und erfinderischer der Sänger, desto erfolgreicher ist er, und zwar in zweifachem Sinne: einmal bezogen darauf, was für ihn selbst herausspringt, und einmal im evolutionären Sinne, bezogen auf die Anzahl der Sprösslinge, die er großziehen wird. An dieser Stelle begeben wir uns jedoch auf das furchterregende Terrain des Anthropomorphismus, der Vermenschlichung von nichtmenschlichen Wesen. Wissenschaftler, die diesbezüglichen Gedankenspielen nachgehen, müssen damit rechnen, einen ganzen Berufsstand gegen sich aufzubringen. Ich für meinen Teil mache mir einfach Gedanken darüber, warum ein Vogel gerne singt.

Es handelt sich dabei nicht um eine wissenschaftliche Frage, bei der es um Beweis oder Gegenbeweis geht, weder jetzt noch in der Zukunft. Menschen singen gern – warum sollte das nicht auch für einen Vogel gelten? Selbstverständlich hat das Singen bei Vögeln eine natürliche Funktion – gelegentlich habe ich aber auch recht viel Spaß bei der Erfüllung natürlicher Funktionen. Warum sollten Tiere nicht ebenfalls Freude bei Tätigkeiten wie Nahrungsaufnahme oder Sex empfinden? Ich beobachtete einmal zwei Löwen beim Geschlechtsakt: Nach erfolgter Kopulation wälzte sich die Löwin am Boden, und zwar so, dass man ihr Verhalten durchaus als Ausdruck reiner Wollust betrachten konnte. Jemand im Auto sagte: „Anscheinend hatte sie viel Spaß dabei.“ Es war scherzhaft gemeint, und alle lachten darüber, aber ich meinte es ernst. Warum sollten Löwen keinen Genuss empfinden bei der Erfüllung ihrer evolutionären Bestimmung? Bei Löwen ist der Geschlechtsakt sehr ausgeprägt. Es gibt Aufnahmen von einem Pärchen, das innerhalb von 24 Stunden 86 Mal kopuliert. Hundehalter wissen, dass ihr vierbeiniger Freund Genuss verspüren und ausdrücken kann, genauso wie Katzen das können, wenn auch auf ihre ganz eigene Weise. Es würde mich überraschen, wenn die zwei Löwen, die wir beobachtet haben, das Leben in dem Moment nicht genossen hätten.

Überrascht wäre ich auch, wenn eine Singdrossel, die an einem schönen Frühlingsmorgen ihr Repertoire aus voller Brust heraussingt, für die Erfüllung ihrer evolutionären Bestimmung nicht mit einem Gefühl von Schaffenskraft, Freude und Befriedigung belohnt werden würde – und zuhörende Weibchen nicht schwer gerührt wären. Das Lied der Singdrossel bewegt sogar Menschen, obwohl wir nicht der gleichen Art, nicht einmal der gleichen Klasse der Wirbeltiere angehören. Wie wird es dann erst den Sänger selbst und seine Zuhörer bewegen? Ein Singdrosselmännchen legt alles in sein Lied, das er in seinem bisherigen Leben gelernt hat. Es ist sein ureigenes Lied – er ist das Lied. Es ist alles für ihn und deshalb gibt er auch alles. So wie es große Künstler tun.


Vom Glück einen Vogel am Gesang zu erkennen

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