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DAS ROTKEHLCHEN
ОглавлениеVögel singen vor allem im Frühling, und daher ist der Winter die beste Zeit, sich dem Phänomen zu nähern. Vögel singen, um ein Revier abzustecken, eine Partnerin zu gewinnen und gegen Konkurrenten zu verteidigen. Mit anderen Worten: Die meisten Sänger sind Männchen, und ihr Gesang steht im Zusammenhang mit der Fortpflanzung, die im Frühling geschieht.
Ob Wald, Park oder Garten, im Frühjahr ertönt eine herrliche Symphonie an Vogelstimmen. Bei Tagesanbruch hebt sie an, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gesteuert, in einer genau festgelegten Abfolge, dessen Prinzip uns jetzt, am Beginn unserer Beschäftigung mit Vogelgesang, noch weitestgehend verschlossen ist. Das Frühlings-Morgenkonzert ist einfach großartig und lässt einem das Herz aufgehen. Für Anfänger ist jedoch kaum nachvollziehbar, wer da wann und wie singt. Wer die einzelnen Instrumente eines Orchesters heraushören möchte, sollte nicht gleich mit dem letzten Satz von Beethovens „Neunter“ beginnen. Aber es ist auf jeden Fall ein lohnendes Ziel, das zu einem tieferen Verständnis und letztendlich noch einer größeren Freude an der „Ode an die Freude“ führt.
Beschränken wir uns also auf einige Solisten, um nicht völlig durcheinander zu geraten. Wenn Sie an einem windstillen, klaren Wintertag in einem Garten, einem Park, einem Waldstück spazieren gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie ein Rotkehlchen hören. Schon deshalb, weil es der einzige Vogel ist, der den ganzen Winter hindurch singt. Rotkehlchen singen sogar die meiste Zeit des Jahres, während fast alle Arten ihren Gesang nach der Brutzeit einstellen. Zwar verstummen auch die Rotkehlchen im Hochsommer für kurze Zeit, wenn sie in der Mauser sind. Dann ist Aufmerksamkeit das Letzte, was sie brauchen. Aber bereits im Herbst legen sie wieder los, und sobald der Frühling auch nur zu erahnen ist, bilden Rotkehlchen wieder Pärchen, häufig mit dem gleichen Partner wie im vorangegangenen Jahr. Frühmorgens beginnen sie als Erste und verstummen abends als Letzte. Übrigens singen beide Geschlechter, um ihr Revier zu verteidigen.
Hören Sie sich an einem solchen Wintertag einmal in Ruhe den Gesang der Rotkehlchen an. Am besten lernen Sie durch Hören, Hören, Hören. Es ist schwer, den Klang eines Cellos oder eines Cellostückes von Bach zu beschreiben, aber in einem Bereich unseres Gehirns können wir Klänge auch ohne verbale Zuordnung speichern. Dieser Bereich lässt sich durch Zuhören aktivieren. Am Anfang muss man sich ziemlich anstrengen, aber relativ schnell ist das Gehörte verinnerlicht. Bald werden Sie ein Rotkehlchen ohne große Mühe erkennen.
Der Haken ist, dass Rotkehlchen nicht nur ein einziges Lied haben. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen. Auch wenn Rotkehlchen gerne variieren und einen großen Liedschatz in ihrem Repertoire haben, der Klang ihrer Stimme ist doch immer der gleiche. Ob Sie Bach oder ein irisches Tanzlied auf einer Geige spielen, es ist und bleibt eine Geige. Und so klingt ein Rotkehlchen immer wie ein Rotkehlchen: Es hat eine dezente, schöne, etwas gequetschte, aber glasklare Stimme. Als ich anfing, Vogelstimmen zu lernen, habe ich das Lied des Rotkehlchens mit seinem feinen Schnabel assoziiert, der dazu geschaffen ist, Insekten aufzusammeln.
So niedlich Rotkehlchen aussehen und so schön sie singen, so aggressiv können sie sein. Die rote Brust signalisiert: Ich bin stark, legt euch nicht mit mir an. Während der Balz plustern männliche Rotkehlchen ihre roten Brustfedern auf, sobald sie andere Rotkehlchen mit roten Brustfedern sehen – auf dem Höhepunkt der Balz sogar, wenn sie irgendetwas Rotes sehen. Dieses Aufplustern geht nicht selten in einen Angriff über, wenn der Gegner ein Rivale ist, der nicht klein beigeben will. In unseren Ohren klingt der Gesang freilich keineswegs kriegerisch, sondern eher lieblich, ja sogar ein wenig melancholisch. Manche behaupten, der Gesang klänge immer melancholischer, je näher der Winter rückt.
Hören Sie dem Rotkehlchen zu, wann immer es Ihnen möglich ist. Halten Sie inne und lauschen Sie. Bald schon werden Sie seine Stimme verinnerlicht haben und von Stimmen anderer Arten unterscheiden können. Stellen Sie Ihr Gehör darauf ein, lernen Sie Schritt für Schritt.
Und freuen Sie sich darauf.