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IM ZWEISTELLIGEN BEREICH

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Erkennen Sie nun das Lied des Rotkehlchens? Wenn ja, dann dürfen Sie sich beglückwünschen. Denn eigentlich befinden Sie sich jetzt schon im zweistelligen Bereich: Sie können nun etwa zehn Vogelarten ihre jeweiligen Stimmen zuordnen. Wieso das? Weil es erfahrungsgemäß so ist, dass Sie, sobald Sie sich für etwas zu interessieren beginnen, entdecken, dass der Lernprozess eigentlich schon seit Jahren irgendwie unterbewusst stattgefunden hat.

Dinge und Phänomene einzuordnen, ist ein Urinstinkt des Menschen. Wir tun das, um die Welt zu verstehen. Wir zerlegen Dinge und stecken sie anschließend in die richtige Schublade. Wir akzeptieren nicht einfach so, dass gewisse Vögel eine rote Brust haben und andere nicht: Wir trennen jene mit einer roten Brust von den anderen und nennen sie Rotkehlchen – der Beginn einer groben Unterscheidung von Vogelarten. Dies tun übrigens nicht nur Wissenschaftler. Jeder Mensch ordnet Dinge in Kategorien ein. Wenn man etwas interessant findet – Popmusik, Filme oder Autos –, dann geschieht es fast von selbst, dass man die Dinge in immer differenziertere Unterkategorien untergliedert. Das ist nicht nur ein Folksong, sondern ein frühes Stück von Bob Dylan. Das ist nicht lediglich ein Film mit Untertiteln, sondern einer von Fellini. Das ist nicht nur ein alter Sportwagen, sondern eine AC Cobra. Für die meisten Menschen ist ein Schwan ein Schwan, Ende der Kategorisierung. Für einen Vogelbeobachter jedoch ist es wichtig zu wissen, dass es von dieser Gattung hierzulande drei verschiedene Arten gibt und weltweit sogar noch vier weitere.

Natürlich kategorisieren wir nicht nur das, was wir sehen, sondern auch das, was wir hören. Wir wissen, dass Klang XY eine Trompete ist und dass eine Trompete ein Musikinstrument ist. Wir wissen, wie ein Presslufthammer klingt und dass es sich dabei um eine Maschine handelt. Und wir wissen, dass ein bestimmtes Geräusch von einem bellenden Hund stammt. Aufgrund dieses Vorgehens können wir auch einige Vögel anhand ihrer Stimmen benennen, ohne dies explizit erlernen zu müssen.

Zum Beispiel die Ente. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass Enten quaken. (Im Laufe der Vogelbeobachtung werden Sie auch Enten kennenlernen, die pfeifen oder wie Männer klingen, die einen Blick durchs Schlüsselloch riskieren, aber dazu später.) Sogar Menschen, die sich in keinster Weise für Natur interessieren, wissen, dass eine bestimmte Art von Quaken zu einer Ente gehört. Die meisten heimischen Hausentenrassen wie etwa Pekingente, Indische Laufente oder Warzenente sind Züchtungen auf Grundlage von Stockenten, und genau wie sie quaken auch diese Rassen. Die Gleichung „Quak = Ente“ ist für nahezu alle Menschen auf der Welt gültig.

Eine Krähe krächzt. Ihr Name verrät viel über ihre Stimme, wie bei so vielen Vögeln, deren Namen lautmalerisch sind. So heißt die Krähe etwa im Mittel- und Altenglischen crawe und im Niederländischen kraai. Mit dem alten englischen Namen wurden vermutlich sowohl Aaskrähen als auch Saatkrähen bezeichnet, schließlich sind beide große schwarze Rabenvögel. (Es gibt feinere Einteilungen von Krähen, so wie es feinere Einteilungen von so ungefähr allem in der Natur gibt.) Wer das murmelnde Krächzen von Saatkrähen auf einem Friedhof oder das ärgerlich klingende Gekrächze einer Aaskrähe hört, der weiß, dass es sich dabei um Krähen handelt.

Wir alle kennen auch den Ruf einer Eule, die meisten vermutlich aus Filmen als Untermalung einer Szene auf einem nächtlichen Friedhof. Neben einigen seltenen Arten, auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen wollen, gibt es drei Arten von Eulen bzw. Käuzen, deren Stimmen man durchaus bei einem Spaziergang abends auf dem Land lauschen kann. Wenn Sie ein schauerliches, bühnenreifes „Wu-uuu-uuu“ in der Dunkelheit hören, handelt es sich um eine Eule oder einen Kauz. Einen männlichen Waldkauz, um genauer zu sein.

Der Ruf von Möwen besteht aus mehreren Schreien. Hört man in einer Fernsehsendung Möwen, dann ist ohne weitere Information sofort klar, dass das Ganze sich irgendwo an der Küste abspielt. Es sind meist Silbermöwen. Sie verfügen über eine begrenzte Skala an Lauten, aber der genannte Ruf ist typisch für sie.

Tauben gurren. Hierzulande gibt es diverse Taubenarten, und obwohl ihre Stimmen unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie gurren. Später werden wir versuchen, die Laute der Tauben noch genauer zu unterscheiden.

Eine Studie hat gezeigt, dass viele junge Menschen nicht einmal annährend wissen, wie der Ruf eines Kuckucks klingt. Die Ursache dafür liegt nicht nur darin, dass wir uns immer weiter von der Natur entfernen, sondern auch darin, dass der Kuckuck immer mehr verschwindet. Anders als früher ist dieser Vogel heutzutage eine eher seltene Erscheinung. Dennoch wissen wohl die meisten Menschen, dass ein „Ku-kuck“ von einem Kuckuck stammt.

Und noch einer: der Specht. Ein plötzliches kurzes Hämmern, eine Art Trommelfeuer an einem Baum – und schon ist klar, dass hier ein Specht am Werk ist. Sie finden, das zählt nicht, da der Specht nicht singt, sondern mit seinem Schnabel einen Stamm bearbeitet? Das ist für die Spechte das Gleiche. Denn das Hämmern deutet nicht darauf hin, dass sie auf Nahrungssuche sind, sondern vielmehr dient es der Reviermarkierung. Sie sind zwar eher Perkussionisten als Sänger, aber der Ton, den sie hervorbringen, ist laut und für uns Menschen gut hörbar. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Buntspecht, aber, wie bereits gesagt, wir kümmern uns erst später um die Unterscheidung der verschiedenen Arten. Zunächst geht es nur darum, dass jeder weiß, wie ein Specht klingt.

Wie Sie sehen, sind Sie keineswegs taub für die Klänge der Natur. Niemand ist das. Sie nehmen mehr wahr, als Sie vielleicht denken. Wer die Stimme des Rotkehlchens mit geschlossenen Augen erkennt, kann sicher auch die Stimmen von acht weiteren Vögeln zuordnen. Wahrscheinlich kennen Sie auch das beruhigende Lied der Amsel und die Schreie von Mauerseglern. Und wenn Sie ein endloses Lied hören, das aus größerer Höhe auf Sie hinunterprasselt, dann wissen Sie, dass es von einer Feldlerche stammt.

Und schon sind Sie im zweistelligen Bereich.

Vom Glück einen Vogel am Gesang zu erkennen

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