Читать книгу Vom Glück einen Vogel am Gesang zu erkennen - Simon Barnes - Страница 15
ZEIT UND RAUM
ОглавлениеDie Wahrscheinlichkeit, eine Ente in einem Eichenwald zu hören, ist denkbar klein. Und einen Kolkraben in Ihrem Garten ebenfalls. So werden Sie vermutlich auch kein Rotkehlchen am Strand von Amrum singen hören. Das ist aus zweierlei Gründen wichtig. Zum einen ist es für den Vogellauscher eine Erleichterung, der zweite Grund hat mehr mit dem Sinn des Lebens zu tun – also widmen wir uns zunächst dem ersten Grund.
Ein Vogelkenner – oder Naturkundler allgemein – zu werden, ist nicht schwierig. Grundvoraussetzung dafür ist nur, dass man die Gesetze von Zeit und Raum beherrscht. Denn Vögel singen, wie Blumen blühen und Schmetterlinge fliegen: zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten. Um Vögel erkennen und verstehen zu lernen, muss man jene Zeiten und Orte kennen – oder auch umgekehrt. So entsteht eine Art positiver Teufelskreis. Jeder Besuch an einem Ort verstärkt das Verständnis dafür, welche Vögel dort leben, und jede Beobachtung eines Vogels verrät etwas über den Ort. Dieses Prinzip funktioniert bei der Zeit ebenso: Tageszeit, Jahreszeit.
Wie viele andere Lebewesen leben Vögel in einem ganz bestimmten Lebensraum. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal den Ruf einer Heckenbraunelle nicht erkannte und dachte, es handele sich um einen unbekannten Strandläufer, und deshalb anfing, die Küste nach ihm abzusuchen. Ich war völlig auf Watvögel und andere Küstenvögel fokussiert, nicht ungewöhnlich, wenn man gerade im Wattenmeer ist und dort auf Ebbe und mit ihr auf das Eintreffen der Watvögel wartet. Der Ruf der Heckenbraunelle kam aus ein paar Sträuchern hinter meinem Versteck. Ich erkannte den Vogel nicht, weil er sich, zumindest auf den ersten Blick, nicht in seinem normalen Umfeld aufhielt. Weil ich so sehr auf die Vögel am Strand konzentriert war, hatte ich die Sträucher hinter mir gar nicht wahrgenommen.
Die Stimme eines Vogels ohne jegliche Zusatzinformation zu erkennen, ist sehr schwer. Ich bin schon einige Male gescheitert, meistens bei Radiosendungen, wenn man mir den Bruchteil eines Vogelliedes vorspielte und mich bat, den Sänger zu identifizieren. Da fehlt mir der Hintergrund: Befinden wir uns gerade im späten Frühjahr im Garten oder mitten im Winter in einem Boot auf hoher See? Bei solchen Tests gehe ich immer schmachvoll baden.
Der menschliche Verstand braucht einen Kontext, nicht nur zur Identifikation, sondern auch um etwas vollends verstehen zu können. Normalerweise wird man in Hannover keine Dreizehenmöwe hören und auf den Felsen von Helgoland ebenso wenig einen Specht.
Und deshalb ist für das Erkennen von Vögeln auch die Kenntnis der Orte wichtig. Ob Rotkehlchen, Zaunkönig oder Heckenbraunelle – sie alle findet man in Gärten, Parkanlagen, Vororten oder Waldstücken. Sie sind Kulturfolger und halten sich gern in der Nähe des Menschen auf. Die von Menschenhand tiefgreifend kultivierte Landschaft ist ihr Lebensraum und gleichzeitig das Geheimnis ihres Erfolgs.
Andere Vögel benötigen andere Lebensräume, weil sie anders leben. Deshalb gibt es so viele verschiedene Vögel, wie es Lebensräume gibt, in denen Vögel sich auf unserem Planeten zu behaupten versuchen. Wenn Sie einen Vogel von einem anderen unterscheiden können, dann ist das nicht so, als hätten Sie Ihrer Briefmarkensammlung eine weitere Briefmarke zugefügt. Sie verstehen und erkennen dadurch die Grundmechanismen des Lebens: Das Leben braucht Vielfalt und eine Vielzahl von Lebewesen.
Vögel eignen sich wunderbar dazu, diese Erkenntnis zu erlangen. Sie unterscheiden sich nicht nur in Farbe und Gesang, sondern zeigen sich dem Menschen auch in großer Vielzahl. In Deutschland gibt es etwa 280 Vogelarten (je nach Quelle, in Österreich und der Schweiz jeweils etwa 240), von denen man mehrere Dutzend ohne Weiteres zu Gesicht bekommen kann, entsprechend mehr, wenn man sich die Mühe macht, seine Beobachtungen akribisch festzuhalten, und noch viel mehr, wenn man sein Hobby obsessiv betreibt. In Deutschland leben mehr als 30.000 Insektenarten, eine unglaubliche Zahl. Weltweit bringen Vögel es auf etwa 10.000 Arten, nicht mitgezählt die eine oder andere unbekannte Art, die noch nicht beschrieben wurde. Insgesamt aber eine Zahl, die noch beherrschbar scheint. Die Zahl der Insektenarten wird weltweit auf eine Million geschätzt, und da gibt es wiederum fünf oder gar zehn Millionen Arten, die noch auf ihre Beschreibung warten. Und jede von ihnen hat ihre eigene, speziell entwickelte Lebensart – so wenig vorstellbar wie die interstellaren Distanzen.
Deshalb konzentrieren wir uns lieber auf eine Zahl, die für uns noch fassbar ist und uns nicht schwindlig macht. Auf Vögel also. Schon wenn Sie ein paar kennen, führt das zu einem größeren Verständnis. Wenn Sie ein paar mehr hinzufügen und dann noch ein paar, stellt sich ein umfassenderes Verständnis fast von allein ein. Mit „Verständnis“ meine ich nicht das Auswendiglernen von irgendwelchen Fakten, sondern mehr Verständnis in einem tieferen, intuitiven Sinne. Man kann sein Wissen über eine Person vergrößern, indem man deren Lebenslauf liest, aber auch und sogar noch besser, indem man sich mit ihr trifft und mit ihr spricht, sie kennenlernt, mit ihr lebt und sie vielleicht sogar liebt. All dies lässt sich auch auf die Natur draußen übertragen.