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Skarabäen, Wiedergeburt und des Todes und des Lebens Strom

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Die Wüste zwischen Fayyum und Alexandria besteht nur aus Sand und Wind. Keine Spur von Leben, abgesehen von einem Käfer, einem Skarabäus, der eine Kugel aus feuchter Erde einen kleinen Hang im Wüstensand hochrollt. Manchmal wird die Kugel zu schwer und kullert wieder nach unten. Dann fängt der Käfer von vorn an und schiebt sie wieder aufwärts, Zentimeter für Zentimeter. Normalerweise rollt das Männchen die Kugel. Das Weibchen läuft hinterher. Es legt die Eier in feuchter Erde oder Exkrementen ab, welche die Eier beschützen können. Dann wird die Kugel an eine sichere Stelle gerollt, im Sand vergraben, und wenn auf diese Weise die Nachkommenschaft gesichert ist, sterben die beiden zufrieden.

Diese Wüstenkäfer genossen im alten Ägypten einen heiligen Status. Der Skarabäus verkörperte und konkretisierte eine altägyptische Vorstellung von Transformation, Erneuerung und Auferstehung. In der ägyptischen Mythologie hieß der Gott, der die Fähigkeit zur Selbsterschaffung symbolisierte, Chepre – »der, der das Sein wird«. Auf Darstellungen ist er meistens zu sehen, wie er jeden Tag die Sonne über den Himmel schiebt, nachdem er sie über Nacht sorgsam durch die ägyptische Unterwelt gerollt hat. Chepre wurde meistens als Skarabäus dargestellt. In einzelnen Grabmalereien ist der Gott, der die Fähigkeit des Erschaffens darstellte, als Mann mit Menschenleib und Wüstenkäferkopf zu sehen.

Die alten Ägypter glaubten, der Käfer sei, ebenso wie Chepre, aus dem Nichts entstanden. Sie glaubten, es gebe nur männliche Skarabäen, weshalb die Käfer, die aus den Kugeln krochen, im wahrsten Sinne des Wortes von nichts kämen. Die Skarabäen symbolisierten sowohl schöpferische Kraft als auch ewiges Leben.

Die Skarabäen und Chepre konnten dazu beitragen, die Prozesse in der Natur zu erklären, die die Ägypter immer wieder erlebten: die Auferstehung des Lebens vom Tode, die Erneuerung der Erde von totem Braun zu lebendem Grün, die Pflanzen, die aus dem Wüstensand auftauchten, als erwüchsen sie aus dem Nichts. Jedes Jahr erlebten der ägyptische Bauer und die gesamte ägyptische Gesellschaft solche Wunder. Das Delta verwandelte sich aus einem Ort, an dem nichts wachsen konnte, in die fruchtbarste Region der Welt. Und dahinter steckte die Natur selbst. Nach den damaligen Kenntnissen über die Funktionsweise der Natur gab es keine andere Möglichkeit, als die Wunder des Nils der Macht der Götter oder später der Pharaonen oder Gottkönige zuzuschreiben. Für die Ägypter wirkte es aufgrund dieser alljährlichen Beobachtungen logisch, den Tod einfach für das Tor zu neuem Leben zu halten.6

Der Skarabäus, der unbeirrbar seine Kugel aus Exkrementen oder feuchtem Schlamm den seichten Hang in der Wüste hochrollt, ist der Geschichtslehrer der Natur und der Bote der Mythen. Er ist eine Erinnerung und eine Versinnbildlichung der Vorstellungen von Tod und Leben, die das Denken in Ägypten prägten, ein Denken, das die Weltanschauung der Menschen über einen viel längeren Zeitraum bestimmte und formte als die durch Christentum und Islam verbreitete Vorstellung von Tod und Leben die Vorstellungswelt in Europa und dem Nahen Osten. Die alljährlichen Wunder des Nils haben in vielen Bereichen die Grundlage für zentrale religiöse Vorstellung in den Wüstenreligionen gelegt, die später in diesem Gebiet entstehen und schließlich die ganze Welt beeinflussen sollten. Der Käfer ist der Ausgangspunkt der ersten Mythen und erinnert uns zugleich daran, dass der Nil die Vorstellungen über ewiges Leben geprägt hat und als Schöpfer der Gesellschaft galt.

Sowohl im alten Ägypten wie an Euphrat und Tigris entstanden religiöse Traditionen bei Völkern, die ihr Leben buchstäblich am Ufer der großen Flüsse verbrachten. Das Leben dort stimulierte den Aufbau eines breit gefächerten Verwaltungssystems, und das Bedürfnis, Steuern festzusetzen, die auf dem Umfang der Nilflut basierten, beschleunigte die Entwicklung von festen Maßeinheiten und der Mathematik überhaupt. Da ägyptische Wissenschaftler nicht das Wetter – das war immer gleich –, sondern das Eintreffen der Flut vorhersagen mussten, wurden sie zu Pionieren in der Entwicklung der Astronomie. Aber der Nil nahm auch im kosmischen Universum der Menschen einen zentralen Platz ein. Er war der Lehrmeister, der die Rätsel der Natur enthüllte und die großen Zusammenhänge erklärte, und er bestimmte die Erfahrungen der Menschen, zu denen die Götter sprechen mussten, wenn ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen sollte. Die alluviale Geografie – die ewige Zweideutigkeit der Flüsse sowohl als Lebensspender wie als Bote des Todes, als Quell von erntesegnenden Berieselungen wie von zerstörerischen Überschwemmungen – formte die Vorstellungen der Menschen am Fluss über Leben und Tod.

Texte aus den Pyramiden berichten vom Glauben der alten Ägypter, den Nil zu überqueren gleiche der Überquerung der Grenze zwischen zwei Daseinsformen. Das gesellschaftliche, das diesseitige Leben spielte sich auf dem Ostufer ab. Indem der Pharao unmittelbar nach seinem Tod auf das Westufer gebracht wurde, konnte er von den Toten auferstehen, und deshalb liegen dort die Pyramiden, diese gewaltigen Grabmonumente.


Die Pyramiden sind enorme Grabkammern, die immer am Westufer des Nils angelegt wurden. Um ewiges Leben zu erlangen, musste der Tote unmittelbar über den Fluss gebracht werden, der die mythische Scheide zwischen Leben und Tod war. Nachdem der Nil in Ägypten durch Menschenhand zu einem Bewässerungskanal geworden ist, reicht der Fluss nicht länger bis zum Fuß der Pyramiden. Das Bild stammt wahrscheinlich aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Der Glaube, dass der Nil der vom Tod beherrschten Unterwelt entstamme, zeigt ein weiteres Mal, wie die ägyptische Kosmologie das die Menschen umgebende ökologische Universum widerspiegelte. Die Welt wurde von klaren Widersprüchen gebildet: zwischen Dürre und wasserspendendem Fluss, zwischen Wüste und Zivilisation, zwischen Licht und Finsternis, zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Flussufer, zwischen dem irdischen Fluss und dem Fluss des Himmels und der Unterwelt. Die Texte aus den Pyramiden beschreiben, wie der Fluss Ägypten zwischen dem Reich des Lebens und dem des Todes teilte. Der Tote wandte sich nach Westen, durchquerte die Unterwelt und erstand im Morgengrauen im Osten auf, überquerte am Himmel den Nil und endete abermals im Westen, und das bis in die Unendlichkeit. Diese Wanderung gab in der himmlischen Welt das wieder, was sich jeden Tag am Nil abspielte. Die Sonne stieg auf, Boote überquerten den Fluss, und das Wasser wechselte zwischen Flut und Rückzug, zwischen Andrang und Zurückweichen.

Der Nil stellte die traditionelle Grenze und zugleich die Verbindungslinie zwischen den beiden Daseinsformen dar. Deshalb war es auch logisch, dass auf einem solchen Fluss ein übernatürliches Wesen navigieren musste. Dieses Wesen war Mahaf, der mythische Fährmann, der die Toten übersetzte. Der Fluss erscheint in den ägyptischen Texten gleichermaßen als Schranke und Treffpunkt zwischen den Menschen und zwischen Leben und Tod.7 Da sie sich dermaßen für die Unsterblichkeit interessierten, hatten die alten Ägypter eine optimistische Religion: Das irdische Leben war nur der Anfang vom Leben nach dem Tode, gewissermaßen ein Übergang zum nächsten Leben – so, wie die wasserarme Jahreszeit ein Übergang war, eine Zwischenstation zwischen Ernte und den Arbeiten, die die nächste Nilflut mit sich brachte.

Erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts musste sich der Nil nach und nach dem Willen der Menschen unterwerfen, eignete sich immer weniger als Rohmaterial für diese Art von religiösen Mythen. Nun entstanden mächtige Dämme und Stauseen sowie gewaltige wasserreiche Kanäle, die das ganze Jahr über Wasser führten, und diese Entwicklung wurde zur Grundlage einer ganz neuen Art von Weltbild, die auf Erzählungen über den Triumph der Moderne und dem Sieg von Mensch und Technologie über die Natur aufbaute.

Der Nil

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