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Der Brief des Kalifen an den Nil

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In der islamischen Überlieferung ist von einem Brief die Rede, der das erste und einzige Schreiben an einen Fluss darstellt. Er wurde von Kalif Omar verfasst, bekannt auch als Omar al-Fārūq oder »Der, der die Lüge von der Wahrheit unterscheidet«. Kalif Omar war der zweite Staatsführer des ersten muslimischen Staates im 7. Jahrhundert kurz nach der Eroberung Ägyptens. Die Geschichte über seinen Brief an den Nil lautet wie folgt:

Als Ägypten erobert wurde, kamen die Menschen am ersten Tag eines ihrer Monate zu Amr ibn al-As, dem Kommandeur der arabischen Besatzungstruppen, und sagten zu ihm: »Emir, dieser unser Nil hat eine bestimmte Forderung, und ohne deren Erfüllung fließt er nicht.« Amr fragte: »Und wie lautet diese?« Sie erwiderten: »Wenn elf Tage dieses Monats vergangen sind, suchen wir nach einer Jungfrau. Nachdem wir die Zustimmung ihrer Eltern bekommen haben, kleiden wir sie in die schönsten Gewänder und geben ihr den prächtigsten Schmuck, und dann werfen wir sie in den Nil.« Daraufhin sagte Amr: »So wird es im Islam niemals sein. Der Islam zerstört alles, was vor ihm gewesen ist.«

Der Fluss führte weder viel noch wenig Wasser. Es gab Missernten, und die Menschen planten auszuwandern. Als Amr sich dessen bewusst wurde, schrieb er an Omar, um ihm über die Entwicklung zu berichten. Daraufhin antwortete der Kalif: »Du hattest recht mit deinen Worten. Der Islam zerstört alles, was dem Islam vorausgegangen ist.« Er legte dem Brief einen Zettel bei und schrieb an Amr: »Ich habe dem Brief an dich einen Zettel von mir beigefügt, wirf ihn in den Nil.« Als der Brief Amr erreichte, nahm dieser den Zettel heraus und las, was darauf stand: »Von Allahs Sklave, Omar ibn al-Khattab Amir al-Muminin, an den Nil Ägyptens. Falls du früher Überschwemmung zu bringen pflegtest, dann fließe nicht! Wenn es Allah war, der dich zum Fließen brachte, dann bitte ich den Allmächtigen Einen, dass er dich strömen lassen möge!« Amr warf am Tag vor dem Fest des Heiligen Kreuzes den Zettel in den Nil. »Sie erwachten am nächsten Morgen, und Allah, gepriesen sei Er, hatte den Fluss zum Fließen gebracht, und er stieg sechzehn Ellen an einem Abend.« Bis zum heutigen Tag gebietet Allah der alten Sitte unter den Ägyptern Einhalt.22

In den Jahrhunderten, die auf die arabische Invasion folgten, übernahm eine fremde Dynastie nach der anderen die Macht über den ägyptischen Staatsapparat, gleichzeitig entwickelte sich Ägypten nach und nach zu dem wichtigsten Land der muslimischen Welt. Die häufigen Wechsel in der Führung unterstreichen damit die Bedeutung des Flusses als permanente Quelle von Reichtum und staatlicher Stabilität. Derweil lebte die übrige Gesellschaft im Großen und Ganzen so weiter, wie sie es seit Jahrhunderten getan hatte.

Anstatt Erklärungen für diesen Konservatismus in der »Mentalität der Ägypter« zu suchen, wie es unter Historikern üblich war, ist es ergiebiger, sie als ein Resultat dessen zu sehen, dass der Fluss Jahr für Jahr den gleichen Arbeitseinsatz und den gleichen jährlichen Wechsel zwischen Arbeit und Ruhephasen erforderte. Technologische Neuerungen waren nur in begrenztem Maße möglich und – in gewisser Weise – auch nicht erforderlich. In Jahren, in denen das Wasser ausblieb oder die Flut zu lange andauerte, gab es Armut und Missernten; Dynastien wurden geschwächt, mitunter fielen sie in sich zusammen. Stets war die Wassermenge des Nils die größte Unsicherheit und Sorge. Und obgleich die muslimische Lehre Götzenanbetung untersagte, setzten die Muslime die Verehrung des Flusses noch lange fort, genauso wie die Kopten es getan hatten.

Der Nil

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