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Die Flucht von Jesus und Maria durch das Niltal

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Mehrere Jahrhunderte nachdem Thales gesehen hatte, wie das Wasser in Ägypten alles erschuf, doch nicht lange nachdem Cäsar und Kleopatra auf der Flussreise die Huldigungen des Volkes entgegengenommen hatten, wanderte noch ein anderes Paar das Niltal hinauf, das noch berühmter werden sollte – die Heilige Familie.

In der Bibel nehmen Ägypten und der Nil einen zentralen Platz ein, was die Bedeutung von Land und Fluss für die Ökonomie und Kultur des östlichen Mittelmeerraums zu Zeiten Jesu unterstreicht. Die Bibel enthält zahlreiche Beschreibungen des dortigen Lebens in den vorchristlichen Jahrhunderten; dabei wird Ägypten 659 Mal erwähnt. In der Bibel ist der Nil einer der vier Flüsse im irdischen Paradies. Der Fluss wird 37 Mal erwähnt und ist sechs Mal unter dem Namen Ghion als Fluss des himmlischen Paradieses beschrieben.

An den Ufern des Nils spielten sich entscheidende Ereignisse in der Geschichte von Judentum und Christentum ab. Die Vorhersagen über die Zyklen des Flusses machten Josef zum wichtigsten Traumdeuter des Pharaos, und seine praktische Handhabung der sieben fetten und sieben mageren Jahre des Nils – nämlich Getreide in guten Jahren zu lagern, um es in schlechten Jahren verwenden zu können – war die Basis für seine Legitimität als engster Vertrauter des Pharaos.

Moses, der Anführer der Juden, wurde am Nil geboren; das am Ufer des göttlichen Flusses wachsende Schilf rettete ihn vor der Verfolgung durch den Pharao. Darüber hinaus wurde Moses »in allem Wissen der Ägypter ausgebildet«.17 Später hob Moses den Stab und schlug ins Wasser »vor dem Pharao und seinen Großen. Und alles Wasser im Strom wurde in Blut verwandelt.« Daraufhin strafte der Herr die Pharaonen mit mageren Jahren. Der Bibel zufolge lebte auch Abraham eine Zeit lang an den Ufern des Nils, und Jesaja versprach, dass der Herr sich den Ägyptern offenbaren werde und dass sie Ihn am Tag des Gerichts als ihren Gott annähmen.18

Dieser relativ wohlhabende und friedliche Teil des Römischen Reichs war auch der Ort, wo Jesus, Maria und Josef vorübergehend Schutz fanden auf ihrer Flucht vor den Verfolgungen des Herodes und seinen Drohungen, alle männlichen Kinder jüdischer Herkunft zu töten. In der Bibel steht, dass sich der Engel des Herrn Josef offenbarte und sagte: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und fliehe nach Ägypten.«19 In der koptisch-christlichen Kirche Ägyptens wird der 24. Juni als der Tag gefeiert, an dem Jesus in das Land kam. Laut koptischer Überlieferung hielt sich die Heilige Familie drei Jahre und elf Monate in Ägypten auf. Entlang des Nils gibt es mehrere Orte, die sie besucht haben soll und die später insbesondere für die Anhänger der koptisch-orthodoxen Kirche zu Gedenkstätten und Pilgerorten wurden. Anfang der 2000er Jahre zelebrierten der damalige ägyptische Premier Atif Abaid und drei seiner Minister im Kairoer Vorort Maadi, dem Ort, an dem man die Ankunft der Heiligen Familie am Nil vermutet, ein Ritual mit dem geistlichen Oberhaupt der Kopten, Schenuda III., sowie dem höchsten muslimischen Würdenträger in Ägypten, dem Großscheich von al-Azhar.

Etwa 80 Kilometer nordöstlich von Kairo, am südöstlichen Rand der modernen Stadt Zagazig, liegt Bubastis. Schon Herodot beschrieb diese Stadt – ein prächtiger Tempel im Zentrum, Kanäle mit von Bäumen gesäumten Ufern, dazu ein jährlicher Höhepunkt: das Fest zu Ehren der Katzengöttin Bastet, Tochter des Sonnengottes, eine beschützende Mutter-Göttin, die mit Fruchtbarkeit assoziiert wird. Jedes Jahr besuchten Hunderttausende ägyptische Pilger diesen Ort. In den Ruinen dieser Stadt wurde auch ein alter Brunnen gefunden. Den koptischen Überlieferungen zufolge ist dies die Stelle, wo Jesus als kleiner Junge Wasser entspringen ließ. Wie vom Propheten Ezekiel vorhergesagt, fielen daraufhin die Götzenstatuen in sich zusammen. Das Volk tobte, woraufhin Jesu Familie fliehen musste. Sie zogen weiter an einen Ort, der heute Mostorod heißt, früher aber »al-Mahamma« oder »Badeort« genannt wurde. Der Name hat seinen Ursprung darin, dass Maria das Jesuskind und seine Kleider an dieser Stelle gewaschen haben soll. Die meisten dieser Plätze sind heute verschwunden, verschluckt von der modernen Urbanisierung und vom Staat vernachlässigt.

Die Bedeutung des Nils in der Vorstellungswelt der alten Israeliten und Evangelisten ließ den Fluss in der Bibel einen zentralen Platz einnehmen. Ihre Texte spiegeln somit auch einen Teil der Geschichte des Nils und wirken wiederum darauf ein, wie die Menschen über den Fluss denken und sich ihm gegenüber verhalten. Die ägyptischen Kopten pflegen diese Geschichten; es sind Erinnerungen an die Jahrhunderte vor der arabisch-islamischen Invasion, als Ägypten noch ein christliches Land war – ein historisches Narrativ, das bis heute ihre Identität bestimmt. Die Kopten haben dem Nil in ihren Ritualen einen zentralen Platz eingeräumt; unter anderem feiern sie den Tag des heiligen Michael als Erinnerung an den Tag, als der Erzengel Gott darum bat, den Nil anschwellen zu lassen.20

Diese Mythen und Erzählungen unterstreichen, dass der Nil nicht zuletzt ein Fluss ist, den viele mit einem religiösen Blick betrachten. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist auch dieses Buch nichts weniger als eine Biografie des Flusses Gottes.

Der Nil

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