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Die Anfänge der Philosophie
ОглавлениеIch halte bei einem der Palmenhaine, an denen das Delta so reich ist. Ich will die Bäume im Morgenlicht sehen, ehe die Hitze unerträglich wird. Allein gehe ich vorbei an den schnurgeraden Bewässerungskanälen unter den wie in Reih und Glied aufgereihten Palmen, Tausende und Abertausende hintereinander, wie Alleen ohne Ende. Dazwischen liegen hier und dort riesige Sanddünen, seltsam fehl am Platze, die Wüste wirkt hier wie ein Eindringling im Garten Eden. Das Licht fällt schräg durch die Palmblätter. Es ist schön und still, sogar das Wasser fließt, oder eher, es bewegt sich, langsam, fast unmerklich und unhörbar unten in den engen Kanälen. Im Koran stehen die berühmten Worte »Allah erschuf alles aus Wasser«. Hier kann ich es bezeugen; ganz konkret kann ich sehen, wie alles aus Wasser geschaffen wird, allerdings eindeutig mit menschlicher Hilfe. Die Palmen, das grüne Gras, noch die kleinste Pflanze – das alles ist entstanden, weil die Ägypter über Generationen hinweg trockengelegt und kanalisiert, das Wasser eingedämmt und umgeleitet haben, wodurch sie ein kompliziertes ökologisch-ökonomisches System entwickelten, das mit dem Begriff »Wasserkontrolle« umschrieben werden kann.
In dieser Gegend wanderte vor fast 3000 Jahren eine der bekanntesten weltgeschichtlichen Persönlichkeiten umher und stellte ihre Beobachtungen über das Wasser als wesentliches Grundelement aller Grundelemente an. Dieser Mann sollte die Geschichte der Philosophie ändern, möglicherweise sogar die Geschichte des Denkens selbst. Die Rede ist von Thales von Milet (624–546 v. Chr.), dem Mann, den Aristoteles später als den allerersten Naturphilosophen bezeichnete und über den Bertrand Russell in seiner überaus einflussreichen Geschichte der Philosophie noch klarer sagte: »Die Philosophie beginnt mit Thales.«12
Thales interessierte sich für alles – Philosophie, Geschichte, Geografie, Politik und Mathematik. Er beschäftigte sich ausführlich mit Astronomie, und es ist behauptet worden, er habe als Erster die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele vertreten. Vielleicht war er auch der Erste, der als Klischee des zerstreuten Professors geschildert wurde. Sokrates erzählte Platon – und der fand es offenbar interessant genug, um es der Nachwelt mitzuteilen –, dass Thales einmal so darin vertieft gewesen sei, einen Stern zu beobachten und das Himmelsgewölbe über sich zu betrachten, dass er dabei in einen Brunnen fiel.
Seit mehr als 2000 Jahren wird unter Historikern darüber diskutiert, wie viel Thales eigentlich geschrieben und was genau er gesagt hat. Es wurde behauptet, er habe in seinem ganzen Leben nur 200 Zeilen verfasst! Was ihn jedenfalls unsterblich machte, war seine Aussage über das Wasser als eigentliches Grundelement der Natur, die einige Jahrhunderte später von Aristoteles überliefert wurde: »Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser.«13 Thales glaubte, die Natur bestehe aus einer einzigen materiellen Substanz – Wasser.
Der Philosoph hielt das Wasser also für das Grundprinzip aller Dinge. Die Erde und alles darauf sei einmal Wasser gewesen. Thales hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Natur selbst die Richtigkeit dieser Aussage demonstrierte und bestätigte. Auf seinen Reisen im Nildelta konnte er, wie alle anderen, beobachten, dass Wasser im Wortsinne Land und Leben erschuf, Jahr um Jahr. Die Hälfte des Jahres war das Delta eine riesige Sumpflandschaft, aber wenn sich das Wasser zurückzog, entstanden zwischen den Flüssen und den verbliebenen kleineren Sümpfen extrem fruchtbare Flächen, auf denen Landwirtschaft betrieben werden konnte. Die Menschen in den Dörfern am Flusslauf errichteten Pfahlbauten, um auch zur Flutzeit dort wohnen zu können. Und in jedem Jahr hinterließ das Wasser ein unerklärliches Zusatzgeschenk: eine feine Schicht aus Schlamm, einen natürlichen Dünger. In Ägypten muss die Frage, woran das gelegen hat, über Hunderte von Generationen hinweg diskutiert worden sein, von armen Bauern sowie von Priestern und den Herrschenden, deren Macht und Status von ebendiesem Prozess abhängig waren. Sie konnten nicht wissen, dass der Nil aus den äthiopischen Gebirgen Zehntausende Tonnen extrem fruchtbarer Erde mitbrachte, aufgelöst in kleine Partikel in dem Wasser, das jeden Herbst für einige Monate angeströmt kam. Thales bot also den Athenern eine philosophische Erklärung für etwas, das in Ägypten ein beobachtbares natürliches Phänomen war. Als er sich selbst fragte, woraus die Welt geschaffen sei, und als er darauf antwortete, aus Wasser, war das nur logisch und ganz einfach eine empirische Beobachtung. Thales’ großes Verdienst bestand darin, diese Beobachtung außerhalb jenes religiösen Universums zu beschreiben, in dem der Nil und sein Wasser Manifestationen der Gottheiten selbst waren – und so stellt seine Beobachtung den Beginn der Philosophie dar.
Die von Thales vertretene Auffassung des Wassers erinnert zugleich an die Vorstellungen der alten Ägypter. Sie glaubten, die Quelle jeglichen Lebens sei eine Art unerschöpfliches, ursprüngliches Gewässer, personifiziert durch den Gott Nu, und der Ursprung der beiden heiligen »Flüsse« – dem Nil, Lebensspender, und dem Himmel, über den Ra, der Sonnengott, segelt. In der bodenlosen flüssigen Masse treibt der Same aller Dinge, so erklärten es die ägyptischen Priester. Diese mystische religiöse Theorie über die Erschaffung des Wassers und der Erde, die auf dem damaligen Wissen über den Charakter des Nils beruhte, gehörte zu der Vorstellungswelt, von der Thales umgeben war.
Thales äußerte sich zu einem Zeitpunkt über die Bedeutung des Wassers, als das Nildelta die bei Weitem ökonomisch produktivste Region des Mittelmeerraums und deren kulturelles Zentrum war. Das Nildelta gehörte zur kollektiven Erfahrungswelt der mediterranen Antike, wie sie auch in den Verbindungen zwischen der altägyptischen und der griechischen Götterwelt zum Ausdruck kam. Man darf also die Verwurzelung des Thales im Nildelta mit dessen spezifischer Hydrologie und mythischer Ökologie nicht außer Acht lassen und seine Aussage, alles sei Wasser, analysieren, als sei er auf diesen Gedanken gekommen, während er zwischen den Säulen Athens einherwandelte. Denn dann würde man die Entwicklung der abendländischen Zivilisation als ein in höherem Grade europäisches Phänomen deuten, als sie es in Wirklichkeit war.
Darüber denke ich nach, als ich in einem der Tausenden von Straßencafés in einem der Tausenden Dörfer im Delta sitze, wo die Bevölkerungsdichte noch immer zunimmt, obwohl sie schon 1000 Menschen pro Quadratkilometer beträgt. Die Kontraste zwischen Lebensformen und Lebenswelten sind überwältigend – Männer mittleren Alters in eleganten Anzügen und superteuren Autos, bestimmt unterwegs zu Häusern und Büros mit Klimaanlage, und andere Männer mittleren Alters, die viel älter aussehen und vermutlich zu den 30 Prozent Analphabeten in der ägyptischen Bevölkerung gehören und die hinten auf ihrem Ochsenkarren stehen, ungefähr so wie Bauern es immer getan haben, seit das Rad in Gebrauch genommen wurde, und die versuchen, den Ochsen im Geräuschchaos zu beruhigen. Vermutlich sind sie unterwegs zu dem kleinen Ackerstück, das von ihrer Familie bestellt wird. Als ich aufstehe und Trinkgeld auf den Tisch lege, murmele ich vor mich hin, dass definitiv nicht alles Wasser ist.