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Gott straft die, welche behaupten, den Nil zu besitzen

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Während der Zug durch das extrem dicht bevölkerte Nildelta saust, unterwegs von Alexandria nach Kafr al-Dawar, und zahllose kleine und große vom Nilwasser gespeiste Kanäle überquert, ziehe ich die Bibel aus der Aktentasche, lege sie auf den Klapptisch und lese ein weiteres Mal die spektakulären Kapitel, in denen Gott die Ägypter für ihre Einstellung zum Nil und ihren Umgang mit diesem Fluss straft. Ich will den Text noch einmal lesen, während mich das Delta umschließt und wir an den kleinen Feldern vorbeifegen, auf denen ich nur flüchtig die Umrisse von Tausenden von armen Bauern wahrnehmen kann, die vollkommen abhängig davon sind, dass die Regierung den Fluss kontrolliert und ihnen ihre Lebensader sichert. Abermals werde ich daran erinnert, wie wenig hilfreich das postmoderne und von einem großen Teil der modernen Sozialforschung vertretene Ortsverständnis ist. Natürlich kann niemand von seinen eigenen Filtern und Blickwinkeln abstrahieren und das Nildelta so sehen, wie es »eigentlich« ist. Aber es lässt sich auch nicht einfach zu einer sozialen Konstruktion reduzieren: Das Nildelta ist ein überaus konkreter physischer Ort, wo die Menschen ihr ortsbestimmtes Dasein leben. Wenn man das als Ausgangspunkt nimmt, kann man auch die Drohung leichter verstehen, die in Gottes Worten enthalten ist.

In der Bibel ist der Nil, beziehungsweise der Gihon, der Fluss des Paradieses, ein Fluss, welcher der Macht Gottes anheimgegeben ist, wie jeder andere Fluss auch. Nur ist der Nil der einzige, von dem Gott unzweideutig sagt, dass er ihn zur Bestrafung eines ganzen Volkes einsetzen wird. Gott hat eine klare Vorstellung davon, wie der Nil zu nutzen sei. Eine strenge, wörtliche Lesart des Textes ergibt, dass alle, die glauben, der Nil gehöre ihnen, nicht nur in sozialer Hinsicht selbstsüchtig handeln, sondern sich Gottes Wort und Seinem Plan für die Welt widersetzen.

Gottes Reaktion auf das, was Ihm als ägyptischer Besitzanspruch auf den Nil erscheint, gleicht einem heftigen Wutausbruch.

Und Ägyptenland soll zur Wüste und Öde werden, und sie sollen erfahren, dass ich der Herr bin. / Weil du sprichst: »Der Nil ist mein und ich bin’s, der ihn gemacht hat«, – / darum siehe, ich will an dich und an deine Wasserströme und will Ägyptenland zur Wüste und Öde machen von Migdol bis nach Syene und bis an die Grenze von Kusch, / dass vierzig Jahre lang weder Mensch noch Tier das Land durchziehen oder darin wohnen soll. / Denn ich will Ägyptenland zur Wüste machen inmitten verwüsteter Länder und ihre Städte in Trümmern liegen lassen inmitten verwüsteter Städte vierzig Jahre lang und will die Ägypter zerstreuen unter die Völker, und in die Länder will ich sie verjagen. / Wenn die vierzig Jahre um sein werden, will ich die Ägypter wieder sammeln aus den Völkern, unter die sie zerstreut werden sollen, / und will das Geschick Ägyptens wenden und sie wieder ins Land Patros bringen, in ihr Vaterland; aber sie sollen dort nur ein kleines Königreich sein. / Sie sollen kleiner sein als andere Reiche und nicht mehr sich erheben über die Völker, und ich will sie gering machen, dass sie nicht über die Völker herrschen sollen, / damit sich das Haus Israel nicht mehr auf sie verlässt und sich damit versündigt, wenn es sich an sie hängt; und sie sollen erfahren, dass ich Gott der Herr bin.

Der Bibel zufolge will der Allmächtige Seine Allmacht durch die Zerstörung Ägyptens beweisen. Und die Begründung ist eindeutig: Gott ergreift diese Maßnahme, weil sich die dort Wohnenden Ihm widersetzen, sie beleidigen Ihn nicht durch Hurerei, Gotteslästerung oder dergleichen, sondern, indem sie dem Nil gegenüber eine andere Haltung zeigen als die von Ihm akzeptierte; sie glauben nämlich, sie hätten den Nil erschaffen und der Fluss gehöre deshalb ihnen.

Aber warum sind die brutale Bestrafung Ägyptens aufgrund dieser Einstellung zum Nil und die Drohung, das Land zu zerstören, so unbekannt und werden kaum einmal aufgegriffen? Wenn man das, was in der Bibel steht, wörtlich nimmt, bekommt es eine gewaltige Bedeutung für die gegenwärtige und die zukünftige Nildiplomatie und -politik, sowohl in Ägypten als auch in den umliegenden Ländern – in den christlichen Staaten weiter am Oberlauf und in den stromab gelegenen muslimischen.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, aber da der Sonnenuntergang im Nu vorübergeht und es draußen schon dunkel ist, sehe ich nur mein eigenes Gesicht. Rasch stecke ich das Buch wieder weg, lächele meinen ägyptischen Sitznachbarn an und bin froh darüber, dass er nicht sehen kann, was ich gelesen habe. Wenn man diese Bibelstellen im Zug durch das Nildelta studiert, wird es nicht nur leichter, ihre ganz konkrete, materielle Wirklichkeit zu verstehen; diese Erkenntnis ist auch eine Erinnerung an die prekäre Stellung der Sprache ganz allgemein – wenn man gerade die Biografie des Nils schreiben will. Dazu ist ein ungewöhnliches Bewusstsein über die Rolle des Beobachters, des Außenstehenden, vonnöten, denn Beschreibungen des Flusses sind vom Standort bestimmt: Unter der Bevölkerung und den politischen Führern der elf Anrainerstaaten des Nils gibt es politische und ideologische Uneinigkeiten über prosaische Dinge, zum Beispiel wie Wasserläufe und Flusseinzugsgebiete zu definieren sind, was den Wasserfluss ausmacht, wie viel Regen fällt, was Wassersicherheit ist und wie die Wasserrechte aussehen. Alle sind eigentlich zur Zusammenarbeit bereit, und doch kommt es schon dann zu Meinungsverschiedenheiten, wenn auch nur die einfachsten Sachverhalte zu beschreiben sind. Das ist die Herausforderung für den unparteiischen Biografen. Ich werfe im Fenster einen Blick auf mich selbst, diesmal ist es ein eher forschender Blick.

Der Nil

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