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Der Rhythmus des Flusses und der Gesellschaft
ОглавлениеEin Buch, das ich stets bei mir habe, wenn ich am Nil bin, sind die Historien, jenes Geschichtswerk, das vor 2500 Jahren von dem Griechen Herodot geschrieben wurde. Wie jedes Werk großer Literatur enthüllt das Buch ständig neue Blickwinkel auf sich selbst, zugleich passt der langsame, etwas umständliche und doch kontrollierte Stil zur Natur des Nils und seiner gesellschaftlichen Rolle. Herodot wird oft als Vater der Geschichtswissenschaft bezeichnet, in erster Linie war er allerdings ein genauer Beobachter. Er besuchte viele Orte der klassischen Antike, bereiste auch den Nil und führte Gespräche mit den einfachen Menschen und den Priestern, die ihm unterwegs begegneten. Er hörte zu, machte sich Notizen; er war eine Art wissbegieriger Romantiker, der sich Wissen um des Wissens willen aneignete. Er begnügte sich auch nicht einfach mit Geschichten, die ihm erzählt wurden oder die als überlieferte Wahrheiten galten, stattdessen wollte er die Dinge selbst ergründen. Herodots Beschreibungen darüber, wie leicht es den Ägyptern aufgrund der natürlichen Bewässerung der Felder durch den Nil fiel, Landwirtschaft zu betreiben, bringt sowohl den Kern als auch die Besonderheiten des alten pharaonischen Ägypten beredt zum Ausdruck:
So haben diese unter allen Menschen, und selbst unter den Ägyptern, die wenigste Mühe, Früchte einzuernten; indem sie weder mit Pflügen noch mit Hacken, noch sonst mit einer Arbeit einige Mühe, wie andere Menschen, mit dem Acker haben. Sondern wenn der Fluß von sich selbst wiederkommt und die Äcker tränket, nachhero sich aber wieder zurückziehet: alsdenn besaet ein jeder seinen Acker, und läßt die Kühe drauf gehen. Wenn nun der Saame von den Kühen eingetreten ist; so erwartet er die Ernte; alsdenn läßt er die Frucht durch die Kühe ausdreschen, und führet sie ein.8
Die Ägypter betrieben Bassin- oder Flutbewässerung. Sie passten sich den natürlichen und äußerst regelmäßigen Schwankungen des Flusses an. Anfang Juni war der Nil ein kleiner bescheidener Fluss. Das Land und die Ackerflächen lagen in der Hitze der Sonne und wurden von den Winden aus der Sahara getrocknet. Die Flächen wirkten wie eine Verlängerung der Wüste. Dann, jedes Jahr im Herbst, kam die Nilschwemme. Einige Wochen lang schwoll der Fluss um das bis zu Vierhundertfache an. Die Dörfer lagen wie Inseln in einem braunen Meer. Nach einiger Zeit zog sich das Wasser zurück, und in der Zwischenzeit hatte der Fluss über 100 Millionen Tonnen fruchtbaren Schlamm hinterlassen, während er sich dick und braun seinen Weg zum Meer bahnte. Jetzt galt es nur noch auszusäen und zu pflanzen und darauf zu warten, dass die Ernte größer ausfiel und schneller kam als irgendwo sonst. Die Ägypter, insbesondere diejenigen, die im Nildelta oder in Unterägypten lebten, brauchten keinen starken Staat, um eine Landwirtschaft zu entwickeln, die effektiver war als an jedem anderen Ort in jener Zeit. In Oberägypten wurde das Wasser, wenn der Fluss seinen höchsten Stand erreicht hatte, in Bassins geleitet, die von massiven Dämmen umgeben waren und ein Gebiet von 40 000 Hektar bedecken konnten. War die Erde ausreichend durchwässert, wurde das Wasser stromabwärts wieder abgelassen.
Die besondere Ökologie und Hydrologie des Nils stellten andere Anforderungen an die Organisation der Gesellschaft, als es andere Flüsse taten. In Ägypten brauchte der Staat nicht Zehntausende oder gar Millionen von Bauern und Sklaven zu mobilisieren, um Schutzdeiche entlang des Flusses zu errichten, wie dies etwa beim chinesischen Feudalsystem am Gelben Fluss der Fall war. Katastrophale Überschwemmungen gab es selten. Wenn der Fluss begann, über das Niveau der Nilometer zu steigen, mit denen jener jährliche Flutpegel markiert wurde, an den die Bevölkerung und die Ökonomie angepasst waren, wurden umfassende Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen eingeleitet. Eine Hochwassermarke auf einer Wand in Luxor zeugt von einer abnorm hohen Flut in der 22. Dynastie (943–746 v. Chr.) in Oberägypten. Die dazu gehörende Inschrift lautet: »Das ganze Tal war wie ein See; kein Damm konnte seiner Wut widerstehen. Die ganze Bevölkerung glich Seevögeln.«9 Die Ägypter setzten große Dammprojekte in Gang, doch waren diese nicht von derselben Bedeutung wie die Bauwerke an Euphrat und Tigris oder entlang der großen Flüsse in China. Einer der weltweit ersten Dämme, der Sadd al-Kefaradamm bei Wadi al-Garawi, wurde etwa 2600 v. Chr. errichtet. Er diente der Kontrolle der Nilschwemme, doch als er einige Zeit später zerstört wurde, wirkte sich dies nicht entscheidend auf die Entwicklung des Landes aus.
Die Gefahr der Bodenversalzung, die den Sumerern zu schaffen gemacht und womöglich ihren Untergang bewirkt hatte, war aufgrund der jährlichen Überschwemmungen weniger akut. Der Fluss selbst spülte das Salz fort, das bei der Verdunstung des Wassers auf den Feldern zurückgeblieben war. Der besondere Charakter des Nils trug auch wesentlich dazu bei, dass die ägyptischen Bauern über weite Teile des Jahres nichts zu tun hatten, weswegen sie einfacher zu öffentlichen Arbeiten wie etwa dem Bau der Pyramiden im Land mobilisiert werden konnten. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, dass Sklaven die Pyramiden und die anderen großen Bauwerke hatten errichten müssen. Neueren Forschungen zufolge wurde bei diesen Theorien wahrscheinlich die besondere Hydrologie des Flusses und seine Rolle für die Organisation der Landwirtschaft außer Acht gelassen. Im Sommer war die Erde nicht feucht genug, um die Felder zu bearbeiten. Während alle auf die nächste Flut im Herbst warteten, hatte die Bevölkerung daher »frei«, und in dieser Zeit konnten die Menschen gegen Entlohnung, oder weil sie an die herrschende Religion und die göttliche Rolle des Pharaos glaubten, für andere Arbeiten mobilisiert werden.
Die Ägypter beschäftigten sich auch mit dem Bau von Kanälen, jedoch in kleinerem Umfang als etwa die Chinesen oder die Sumerer. Dass sie dazu imstande waren, hatten sie bereits bewiesen; in dynastischer Zeit wurden lange Kanäle vom Nil zum Roten Meer gebaut, darüber hinaus auch Bewässerungskanäle im Nildelta. Nachdem die Zentralregierung die Kontrolle über das Wasser an sich genommen hatte, war einer der frühesten administrativen Titel, den lokale Gouverneure tragen konnte, Adj-mer, der Kanalgräber. Auf dem Nil ließ sich auch relativ leicht navigieren. Der Strom trieb die Schiffe nach Norden, während der Wind größtenteils in Richtung Süden wehte. Durch die Kontrolle über die Schiffstransporte konnten Staatsmacht und Herrscher den Transport von Waren und Menschen steuern. Im Gegensatz dazu war die Navigation auf den gewaltigen chinesischen Flüssen, insbesondere dem Gelben Fluss, aber auch auf dem Euphrat und dem Tigris wesentlich schwieriger.
Als ich mich aus der im Westen gelegenen Oase dem Delta nähere und die ersten schmalen Ackerstreifen an der Grenze zur Wüste passiere, nehme ich abermals Herodots Buch hervor. Ich lese seinen Text noch einmal und kann es dank seiner Beschreibungen gleichsam vor mir sehen, wie die Ägypter über Jahrtausende hinweg ihr Leben in dem ewigen Versuch verbrachten, sich dem Rhythmus, den Gaben und den Gefahren des Flusses anzupassen.