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EINLEITUNG Das Mosaik außerhalb von Rom

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Im dritten Stockwerk eines bescheidenen archäologischen Museums etwa 35 Kilometer außerhalb von Rom befindet sich das weltbekannte Nilmosaik. Es ist rund 2000 Jahre alt, fast sechs Meter breit und mehr als vier Meter hoch. In bunten Farben und aus verschiedenen Blickwinkeln schildert es den Fluss und das Leben an seinen Ufern. Am Oberlauf werden afrikanische Motive wiedergegeben, an der Mündung sind Mittelmeerszenen erkennbar. Das ungewöhnlich farbenfrohe und klare Bild wurde aus bunten Steinen zusammengesetzt, die mit einer Art Mörtel befestigt wurden. Was dieses Mosaik in Palestrina aber besonders und zu einem Teil der Kunstgeschichte macht, ist die Tatsache, dass der Fluss und das Leben der Menschen dort aus einer ganz und gar modernen Perspektive geschildert werden: Es wirkt, als hätte der Künstler den Nil aus einem Flugzeug betrachtet. Zudem stellt das Werk eine äußerst beredte historische Quelle dar; es unterstreicht die Zeitlosigkeit des Flusses als Zentrum und Lebensader der Gesellschaft und zeigt, wie das Mittelmeer gleichsam die in Wasser geschriebene Geschichte eines Kontinents in sich aufnimmt.

Das Mosaik bildet den Nil als zentralen Ort im Leben der Menschen ab, bringt aber ebenso zum Ausdruck, dass der Fluss stets ein Teil der kulturellen und religiösen Geschichte Europas gewesen ist. Es erinnert uns an eine ferne Vorzeit, in der der Nil als heilig verehrt wurde, nicht nur von Priestern in riesigen Tempeln entlang des Flusses in Ägypten, sondern auch in Europa. Das Kunstwerk stammt aus einer Epoche, in der sich der Nil- oder Isiskult von Ägypten aus in der hellenischen und römischen Welt verbreitete. Dieser Kult war eine neue, selbstständige Religion – eine Mysterienreligion, die von Tod und Auferstehung handelte und um eindrucksvolle Prozessionen und Rituale kreiste, in denen der Nil im Zentrum stand. Im British Museum in London befindet sich eine der zahlreichen Statuen der Fruchtbarkeitsgöttin Isis. In der linken Hand hält sie einen Krug mit heiligem Wasser des Nils, dem Mittel, das Erlösung bringen sollte. Vor 2000 Jahren konnten nördlich des Mittelmeers immer wieder Gläubige beobachtet werden, die solche Krüge mit Nilwasser über Bergkämme und durch Täler trugen, und es besteht eine tief gehende geschichtliche Verbindung zwischen den Krügen mit Nilwasser und den späteren Taufbecken in europäischen Kirchen.1

Das Kunstwerk wurde einige hundert Jahre vor jener Zeit erschaffen, als dieser Nil- und Isiskult von einer ernsten Konkurrenz bedroht wurde, nämlich dem Christentum, der neuen Religion, die sich vom Nahen Osten her ausbreitete. Die Verehrung des Nils und seiner Götter wurde weit in die christliche Ära hinein fortgesetzt. Es waren Isisanhänger, die den Evangelisten Markus an einem Osterfest einige Jahrzehnte nach Jesu Tod in Alexandria niedermetzelten; mit einem Strick um den Hals wurde er durch die Straßen gezogen und schließlich geköpft. Erst als das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion aufstieg, wurde der Kult um Isis und den Nil zerschlagen. Vom Geburtsort eines expansiven Mysterienkults wurde das Nildelta nun zu einem Zentrum des frühen Christentums.

Das Nilmosaik außerhalb von Rom repräsentiert eine lange historische Linie, die durch spätere, zwischen Kontinenten und Nationen gezogene Grenzen und Trennungen unscharf geworden ist. Sogar der Name des Flusses ist mit Europa verbunden, durch den griechischen Dichter Hesiod, der im 7. Jahrhundert v. Chr. lebte, als Ägypten, das Nildelta und Griechenland Bestandteile einer gemeinsamen mediterranen Kultur waren. Hesiod nannte den Fluss Νεῖλος – Neilos –, der numerische Wert der dabei verwendeten griechischen Buchstaben ergibt 365, mit anderen Worten also alles – wie um zu unterstreichen, dass der Fluss als alles aufgefasst wurde. Das Mosaik erinnert uns daran, dass es die Menschen in der Nähe des Flusses waren, die sich als Erste aufmachten, um den afrikanischen Kontinent zu verlassen und die Erde zu bevölkern; dass eine der frühesten uns bekannten, auf Landwirtschaft beruhende Gesellschaftsform an den Ufern des Nils entstand und dass die mächtigste und eindrucksvollste aller antiken Zivilisationen dank des Flusses gedeihen konnte.

Das Mosaik ist wie die topografische Schilderung einer religiösen Zeremonie, muss aber auch als Huldigung des Nils als Bestandteil der mediterranen Kultur gedeutet werden. Das Mosaik strahlt dieselbe Faszination für den Fluss aus, die schon Julius Cäsar erspürt haben muss. Der römische Feldherr und Politiker soll geäußert haben, Ägypten sofort aus der Hand geben zu wollen, wenn ihm jemand den Weg zur Nilquelle verraten könnte. Wo kam all das Wasser her, das jeden Sommer – gerade wenn es in Ägypten am heißesten und trockensten war – aus der glühend heißen Wüste heranströmte und eine der fruchtbarsten Gegenden der ganzen Welt erschuf? Bis in das europäische Spätmittelalter war das Rätsel des Flusses von fantasievollen mythischen Vorstellungen geprägt, in der Literatur wurde geschildert, er ströme direkt aus dem Paradies sowie über eine Treppe aus goldenen Stufen. Lange wurde der Nil als eine göttliche Manifestation begriffen. Einer der bekanntesten Chronisten des 14. Jahrhunderts, Jean de Joinville, fasste den herrschenden Glauben in seiner zwischen 1305 und 1309 erschienenen Histoire de Saint Louis so zusammen: »Und man weiß nicht, woher dieses Hochwasser kommt, es sei denn durch den Willen Gottes.«2


Zeichnung einer antiken Isis-Statue von Paolo Alessandro Maffei, 1704. Die Göttin hält einen Krug mit heiligem Nilwasser in der Hand.

Nach dem Triumph der Aufklärung in Europa entstand eine andere, eher wissenschaftlich begründete Nilromantik. Bis ins 19. Jahrhundert gab es nur wenige geografische Fragen, die intensiver diskutiert wurden, als die nach der Lage der Nilquellen. Am Wasserlauf des Nils spielte sich vor 150 Jahren eine der spektakulärsten wissenschaftlichen Vermessungen der Welt ab, als Abenteurer und Entdecker wie Henry Morton Stanley, David Livingstone und John Hanning Speke, die vermögende Niederländerin Alexandrine Tinné sowie ein norwegischer Langlaufmeister nach den Quellen des Nils suchten. Die Geschichte über die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Vermessung des Nils durch europäische Geografen, Entdeckungsreisende, Hydrologen und britische Wasserbauingenieure ist eine Geschichte über koloniale Eroberung und über den Triumphzug der modernen Wissenschaft in Afrika.

Doch der Fluss, den das Mosaik eingefangen hat, festgefroren wie in einer 2000 Jahre alten Momentaufnahme, hat seitdem, in jeder Sekunde, Tag für Tag und Generation für Generation, undurchdringliche Urwälder durchflossen, wo das Sonnenlicht nie den Boden erreicht, ist brüllend und tosend von vulkanischem Hochgebirge gestürzt, hat gigantische Binnenseen und den weltgrößten Sumpf durchquert und sich auf seinem Weg aus dem Inneren Afrikas durch eine der trockensten Wüsten unseres Planeten gekämpft. Die beständige Geografie des Flusses und der pulsierende Rhythmus des Wassers schaffen noch heute die Bedingungen für Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft und waren stets Ursprung sowohl für Mythenbildung als auch für Machtkämpfe.

Bevor das Mosaik erschaffen wurde, war das Nildelta bereits von den Persern, von Alexander dem Großen und auch von Cäsar in Besitz genommen worden. Später eroberten die Araber den Nil. Die Kreuzfahrer kamen an den Fluss. Napoleon ritt an der Spitze seines Heeres das Delta hinauf, um die »Schlacht bei den Pyramiden« zu schlagen. Mit Kairo als Achse etablierten die Briten ihr Nilimperium vom Mittelmeer bis zu den Quellen des Flusses im Herzen Afrikas, und zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte herrschte eine einzige Macht, das britische Empire, über den gesamten Fluss. Die Bewohner an diesem Wasserlauf standen seit dem 7. Jahrhundert im Zentrum des Kampfes zwischen Islam und Christentum in Afrika. Darüber hinaus war der Fluss Zentrum für das Entstehen einiger klassischer Mythen der internationalen Entwicklungshilfepolitik, wobei die Bilder eines hilflosen Afrikas, die dabei entstanden sind, angesichts der jüngeren Entwicklung einzelner Regionen hoffnungslos veraltet erscheinen.

Dieses Buch steht in der gleichen Tradition, die das Mosaik in Palestrina symbolisiert: die europäische Faszination für Rolle und Bedeutung des Flusses. Es handelt sich um ein Geschichtsbuch über die Entwicklung der Zivilisation sowie um eine Reisebeschreibung vom längsten Fluss der Erde. Doch es ist auch eine Studie über moderne Hydropolitik und afrikanische Entwicklung und soll zudem zeigen, wie diese Veränderungen die zentralen Entwicklungen in der modernen Welt widerspiegeln. Zuallererst ist dieses Buch indessen die Biografie einer Lebensader, die mittlerweile fast eine halbe Milliarde Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft vereint, der niemand entkommen kann.

Ich habe bereits zuvor über die Geschichte des Nils geschrieben. Über den Fluss unter britischer Kontrolle (The River Nile in the Age of the British) sowie in der postkolonialen Epoche (The River Nile in the Post-Colonial Age). Dazu habe ich eine fünfbändige Literaturübersicht zur Nilregion sowie Bücher über die Entwicklungshilfepolitik in dieser Region herausgegeben. Dieses Buch hat einen anderen Schwerpunkt und eine wesentlich längere zeitliche Perspektive und versucht zusammenzufassen, was ich auf unzähligen Reisen an diesem Wasserlauf gelernt habe – nach unendlich vielen Gesprächen an Cafétischen zwischen Alexandria und Kigali, nach vielen ausführlichen Interviews mit Experten, Ministern und Staatsführern, und nachdem ich ein ganzes Jahr in Archiven auf drei Kontinenten verbracht habe, auf der Jagd nach Quellen über die Regionen sowie die Geschichte des Flusses.

Was jetzt und in naher Zukunft mit und am Nil geschieht, wird dramatische Folgen für die regionale sowie für die globale Politik haben. Während dieses Buch geschrieben wird, durchläuft der Nil, derweil er sich seinen Weg durch die Natur sucht und zugleich die Entwicklung der Gesellschaften an seinen Ufern beeinflusst, die wohl revolutionärste Veränderung in seiner langen Geschichte. Gerade in einer Zeit, in der die Gegenwart zunehmend dramatischer, unbeständiger und unübersichtlicher wird, sind historische Kenntnisse wichtig. Denn wenn man die Vergangenheit nicht versteht, sind Missverständnisse der Gegenwart unvermeidlich.

Der Erzählstrang dieses Buches ist gegliedert wie eine Reise entlang des Nils, von der Mündung zu den Quellen. Denn nur, wenn man dem Nil flussaufwärts folgt, von Ort zu Ort, wenn man langsam und systematisch dem Pulsschlag des Flusses lauscht, durch die Geschichte hindurch, können seine Geheimnisse und verschiedenen Rollen aufgedeckt und seine Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft verstanden werden.

Der Nil

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