Читать книгу Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen - Thomas W. Jefferson - Страница 19

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Wochenlang hat sie keine Kraft, das buchdicke Dossier der Detektei zu lesen, obwohl sie wissen will, was jetzt auch noch eine Rocky Mountain Cryobank mit ihr und ihren Kindern zu tun hat. In einer der vielen Nächte aber, während derer sie jetzt nicht mehr schlafen kann, setzt sie sich im Nachthemd an den Schreibtisch und fängt zu blättern an. Und nun beginnt eine aufregende Reise durch ein Amerika, das Britta bislang nur aus Filmen und Romanen kannte.

Das ganze Unglück beginnt im Jahre 1948 in dem Städtchen Osgood im Staate Missouri. Als die aus tausend Filmen bekannten Cowboys ihre riesigen Vieherden von Texas zu den Schlachthöfen Chicagos trieben, da war Osgood eine der Stationen auf diesem längsten aller Rinder-Trails. Zehntausend Einwohner hatte der Ort damals; es gab sechs Saloons, drei Kirchen, zwei Friedhöfe und einen Bahnhof. Heute besteht der Flecken noch aus drei Straßen, zehn Häusern und einem Getreidesilo. Post und Bahn haben ihren Betrieb vor Jahrzehnten eingestellt. Die wenigen Seelen, die hier noch wohnen, sind Witwen, die vor ihren weißen Häusern sitzen und stricken.

In dieser bukolischen Idylle beginnt das Leben von Spender 9.713, der mit wirklichem Namen John C. Kloehr heißt. Die Kloehrs sind im Neunzehnten Jahrhundert aus Deutschland in die USA eingewandert und über St. Louis und Kansas City nach Osgood gelangt. Besonders weit haben sie es auf dieser Wanderschaft allerdings nicht gebracht. Zuerst waren sie Tagelöhner, dann Sharecropper, irgendwann kleine Farmer. Charles und Myrtle Kloehr, die Eltern von Spender 9.713, haben im Jahr 1946 in Campground bei Osgood eine Farm gepachtet: ein paar Hektar Maisland, ein Ford-Traktor, drei Maultiere, fünf Truthähne, sieben Kinder, elf Kühe. Hier kommt John C. im kombinierten Wohn-Schlafzimmer am siebten Oktober 1948 zur Welt, an einem dieser Herbsttage, an denen der Präriewind an Fenstern und Türen reißt und rüttelt und die Pappeln, die sich hier schnurgerade bis zum Horizont hinziehen, schüttelt und biegt.

Über seine Kindheit haben die unerhört gründlichen Privatermittler nichts zu berichten, erst zum Jahr 1964 heißt es lapidar: Dropped out of High School. Mit siebzehn meldet er sich freiwillig zur Armee, und jetzt gibt es zum ersten Mal einen Beweis, daß John C. Kloehr an NF 1 leidet: Bei der Musterung wird eine Skoliose festgestellt, die Lisch-Knötchen im Auge werden entdeckt, und die typischen Café-au-lait-Flecken auf der Haut werden auch beschrieben, doch die Diagnose NF 1 wird nicht gestellt. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß die Amerikaner in Vietnam einen kleinen Krieg führen, der von Jahr zu Jahr größer wird, und Verteidigungsminister McNamara jeden Soldaten braucht, den er kriegen kann, auch John C. Kloehr, der als gerade noch tauglich eingestuft wird, allerdings nicht für den Frontdienst: Not fit for combat duty.

Nach der Grundausbildung in Camp Pendelton geht er mit einer Logistikeinheit nach Vietnam, wo er erstaunliche sechs Jahre bleibt, doppelt so lange wie die meisten anderen Soldaten. Aber John C. kämpft ja auch nicht, sondern fährt auf einem Gabelstapler durch die endlosen Hallen der Armeebasis von Da Nang, wo er Armeestiefel, Einmannpackungen, Regenponchos, Malariatabletten, Moskitonetze, Kondomschachteln, Field Surgical Kits, Klappspaten und Munitionskisten schön sauber aufeinanderstapelt. Vermutlich wäre er dort bis zum schmählichen Abzug der Amerikaner geblieben, wenn er nicht beim Diebstahl von Medikamenten erwischt worden wäre, die er gegen Heroin und Marihuana eintauscht, womit er die Militärbasis zuverlässig versorgt. Die amerikanische Militärgerichtsbarkeit sieht für so etwas strenge Strafen vor, um in diesem unpopulären, aber notwendigen Krieg die Moral der kämpfenden Truppe aufrecht zu halten. Im September 1974 wird John C. zurück nach Camp Pendelton verfrachtet, vor ein Militärgericht gestellt, zu zwei Jahren Haft verurteilt und danach unehrenhaft aus der Armee entlassen. Damit hat er nicht nur sämtliche Ansprüche auf Übergangsgelder, Kranken- und Rentenversicherung verwirkt, sondern auch Schwierigkeiten, jemals wieder einen vernünftigen Job zu finden, da auf allen Bewerbungsformularen nach dem Militärdienst gefragt wird, wo Kloehr nun immer eintragen muß: Dishonorably discharged because of previous conviction. Aus Sicht einer Personalabteilung ist das ein Todesurteil.

Tatsächlich wird John C. Kloehr für den Rest seines Lebens nur noch Gelegenheitsarbeiten verrichten: Ein halbes Jahr in einem Lagerhaus, ein paar Monate bei einem Kurierdienst, Staplerfahrer am Containerhafen von Long Beach, Wachmann, Poolreiniger, Hundetrainer, Meatpacker. Immerhin findet er zwischen all den Jobs Zeit zum Heiraten. Die Braut heißt Immaculata Ruiz, eine Siebzehnjährige aus Nogales, die nichts gelernt hat und kaum ihren Namen schreiben kann. Ein Foto zeigt eine kleine, stämmige Mexikanerin im Jeansrock mit dicken Augenbrauen, schlechten Zähnen und Plateausandalen. In sechs Jahren bekommt Immaculata fünf Kinder von John C. Kloehr. In neun Jahren zieht die Familie dreizehnmal um, dann ist die Ehe am Ende. 1987 wird Kloehr geschieden, randaliert mehrmals vor seiner früheren Wohnung, darf sich deshalb auf Gerichtsbeschluß Frau und Kindern nicht mehr nähern, zahlt keinen Unterhalt, verliert seine Unterkunft, lebt auf der Straße. Irgendwann verschwindet er aus Los Angeles. Ein Jahr später taucht er in Denver wieder auf, wo er von einem Auto angefahren wird, Monate im Krankenhaus verbringt, das er an einem Wintertag auf Krücken verläßt.

Und dann, im Februar 1989, beginnt das letzte und für die Nachwelt interessanteste Kapitel im Leben des John C. Kloehr aus Osgood, Missouri. Ausgemergelt, dürr wie ein Lattenzaun, krank, wohnsitzlos und angewiesen auf Sozialhilfe, Suppenküchen und staatliche Essensmarken läutet er an einem kalten Morgen bei der Rocky Mountain Cryobank in Cheyenne im Bundesstaat Wyoming. Die Rocky Mountain Cryobank ist eine Fertilitätsklinik mit angeschlossener Samenbank, die Räume über einer Autowerkstatt gemietet hat und den Bogdanows, einem Ärzte-Ehepaar, das kürzlich aus Rußland eingewandert ist, gehört. Eigentlich sollte jeder Spender vor seiner Samenspende gründlich untersucht werden, aber John C. Kloehr muß nur einen Fragebogen ausfüllen und wird dann direkt in die Wichskabine neben dem Klo geführt. Hier hängen drei Pornohefte an Metallkettchen von der Wand, und hier steht neben einer Rolle Klopapier eine gläserne Kompottschale, in die der zukünftige Vater vieler Kinder so viel wie möglich hineinwichsen soll. Dafür gibt es pro Termin fünfunddreißig Dollar, und das ist für einen Mann, der keinen Penny hat, und zu einer Zeit, da ein möbliertes Zimmer im Monat achtzig Dollar und ein Big Mac mit Pommes und Cola zwei Dollar kostet, richtig viel Geld. John C. Kloehr steigt binnen Wochen zum Stammlieferanten der Rocky Mountain Cryobank auf. In zwei Jahren zahlen ihm die Bogdanows für über dreihundert Samenspenden zwölftausend Dollar. Ein kleines Vermögen.

Vielleicht wären die fast schon täglichen Besuche John C. Kloehrs in der Rocky Mountain Cryobank noch lange so weitergegangen, wäre er nicht im Oktober 1992 an einer schweren Gelbsucht erkrankt, die auf eine Infektion mit Hepatitis C zurückzuführen war. Jetzt geht alles ziemlich schnell: Er bekommt hohes Fieber, seine Leber schwillt an, bis sie groß wie ein Basketball ist, sein Urin nimmt die Farbe starken Tees an und stinkt wie ein Misthaufen. Vor lauter Schwindel und Delirium weiß er nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist. Einmal noch geht er in den Seven-Eleven hinunter, wo er eine große Packung Tylenol kauft, schleppt sich dann wieder auf sein Zimmer, und da, in einem Boardinghouse am Interstate-Higway 25, auf dem Tag und Nacht die riesigen Mack-Trucks vorbeirauschen, geht am siebten Oktober 1992, an seinem vierundvierzigsten Geburtstag, das Leben des John C. Kloehr aus Osgood, Missouri zu Ende. Als eine peruanische Putzfrau ihn findet, besitzt der Mann, der als einer der fruchtbarsten Samenspender überhaupt in die amerikanische Rechtsgeschichte eingehen wird, weniger als zehn Dollar.

Aber John C. ist, wie die Ermittler in ihrem Schlußwort schreiben, keineswegs vergangen und vergessen, sondern lebt in mehr als zweihundert Nachkommen, die mit seinen kraftvollen Spermien gezeugt wurden, weiter. Die Rocky Mountain Cryobank hingegen gibt es schon lange nicht mehr. Die Bogdanows mußten 1998 Insolvenz anmelden, worauf ihr gesamter Bestand an eingefrorenen Spendersamen von der Boston Cryobank günstig aufgekauft wurde.

Und hier in South Boston, in einem grauen Büroblock, der geographisch keine zwanzig Kilometer, ansonsten aber Welten vom Geldadel der Ostküste, von Harvard und vom MIT entfernt liegt, war eine junge, neu eingestellte Mitarbeiterin, die es im Leben zu etwas bringen wollte, monatelanglang kreativ und hat ein bißchen gute Fee gespielt. Voller Lust und Schöpferkraft hat sie den seit Jahren und Jahrzehnten eingefrorenen Samen aus Wyoming in ihren gelblichen und mit Rauhreif betauten Glasröhrchen neue Väter zugewiesen, hat diesen andere und glanzvollere Biographien geschenkt, hat aus Automechanikern Nobelpreisträger, aus Farmern Hollywood-Schauspieler, aus Obdachlosen Mathematiker, aus Landstreichern Topmanager und aus Taglöhnern Weltklassepianisten gemacht, hat also das Leben, wie es ist, durch eines, wie es sein sollte, ersetzt, was vollkommen verständlich ist, denn Mythen, Märchen und Romane tun das seit jeher. Irgendwann kommt die neue Kreativkraft auch an das Profil von John C. Kloehr, und da denkt sie sich: vorbestraft, Ex-Soldat, Gelegenheitsarbeiter, Vietnamkrieg, arbeitslos, rothaarig, sommersprossig, spindeldürr, Essensmarken, Sozialhilfe, geschieden, abgebrochene High-School: das klingt nicht gut. Hier ist Fantasie notwendig, also träumt sie ein bißchen, denkt an Männer, die sie mag, an Geschichten, die sie gehört hat, bis ihr schließlich einfällt: Südländischer Typ, dunkle Augen, schwarze Haare, sehr groß, schlank. Blutgruppe A Positiv, Quantenphysiker, promoviert, Schachspieler etc.

Ganz hinten enthält das Dossier der amerikanischen Privatdetektive noch einen Anhang mit Fotos. Es sind richtig viele Fotos, und einige sind sehr interessant. Hier sieht Britta nun das windschiefe, längst verlassene Holzhaus der Kloehrs mit dem angebauten Stall und dem Ententeich davor, den Dreck und das Gerümpel, das überall herumliegt, die zerbrochenen Holzbohlen der Veranda, auf der schon lange keiner mehr sitzt, während sich die lange Reihe der Silberpappeln bis zum Horizont hinzieht wie eh und je. Aber komisch, gleich nach den ersten Bildern hat sie das Gefühl, als würde sie dieses Haus kennen, sogar richtig gut kennen, und zwar nicht nur von außen, nein, auch von innen. Sie hat das unheimliche Gefühl, als hätte sie diese Bruchbunde schon einmal betreten, obwohl sie in ihrem Leben nur einmal in den USA, da aber nicht in Missouri und schon gar nicht in so einem Drecksnest gewesen ist. Und dann sieht sie das Zimmer zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder, dieses Wohnzimmer, das sie einmal so sehr begeistert hat. Die Perspektive ist eine andere, der Christbaum fehlt, aber sonst ist alles da: der wackelige Tisch auf den Spinnenbeinen, das abgewetzte Sofa, der fadenscheinige Teppich und das uralte Radio auf einem Beistelltisch. Der schwarzhaarige Junge, der ihr einmal so gut gefallen hat, ist diesmal nicht auf dem Foto zu sehen, dafür steht mitten im Raum ein dicker Junge mit einem kugelrunden Kopf und einem schiefen Gesicht und hält ein Feuerwehrauto in die Kamera. Das, haben die Ermittler herausgefunden, war John C. Kloehr als Kind – und nicht der schlanke Junge mit den schwarzen Haaren und den schönen Augen.

Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen

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