Читать книгу Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen - Thomas W. Jefferson - Страница 20
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ОглавлениеSie sitzt die ganze Nacht vor dem Laptop und liest und liest und liest. Als die Dämmerung durch die Rolladen dringt, die Vögel anfangen zu singen und ein roter Streifen über den Baumwipfeln erscheint, da hat sie ein Gefühl, das sie in ihrem Leben noch nie gehabt hat: Das Leben ist sinnlos, weil die Welt keine Ordnung hat. Wenn das, was in diesem Dossier steht, wahr ist, dann sind die Annahmen, auf denen die Welt, ihre Welt, einmal beruhte, zusammengebrochen, dann hat man sie, als sie ein Kind war, belogen, dann war all das, was man ihr erzählt, beigebracht und vermittelt hat, ein Gespinst von Lügen. Dann existiert all das, worauf ihre Welt gebaut war, nicht: Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge.
Natürlich: in der Politik, da wird gelogen, da geht es gar nicht anders. Wer die Wahrheit sagt, wird nicht gewählt – das weiß jeder. Da hat sie auch schon gelogen, damals bei diesem Planungsfeststellungsverfahren zum Beispiel, denn sonst wäre die Begrünung der Flachdächer mit Miscanthus doch nie genehmigt worden. Aber das war für einen guten Zweck, auch wenn es sich später als ein katastrophaler Fehler erwies, weil keiner an die Drainage gedacht hatte. Und am Anfang, als die Gutachten verfaßt wurden, da erschien das wie eine gute Sache.
Aber in der Politik zu lügen, das ist etwas anderes, als hier zu lügen, wo es um Kinder geht, um das Leben, um ewige Dinge also, um Biographien, die plötzlich eine ganz andere Wendung nehmen. Als sie weinend und rotäugig vor dem Bildschirm sitzt, der von den Morgensonnenstrahlen nun erfaßt wird, da kommt es ihr so vor, als ob jemand Rotkäppchen geändert hätte oder Schneewittchen, da ist es ihr, als hätte jemand die Geschichten vollkommen verdreht, so, als sei das Rotkäppchen der Wolf, die Königin die Gute, Schneewittchen die Böse und die Zwerge ein paar pädophile Drecksäcke.