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Kapitel 2

Der Ursprung meiner sehr eigenen Gesinnung musste bei näherer Betrachtung wohl in meiner frühen Kindheit zu suchen sein. Zu dem Schluss kam ich zumindest, als ich mich unerwartet gezwungen sah, mich mit meiner Person und der neuesten Entwicklung auseinanderzusetzen. Mühsam versuchte ich mich zu erinnern. Schließlich glaubte ich den Schlüssel gefunden zu haben. Einen Jungen namens Daniele hielt ich für einen angemessenen Prügelknaben, und eine leichte Übelkeit überkam mich, als die Erinnerung wiedergekehrt war.

Daniele war ein kleiner Schwachkopf. An harten Fakten wie diesen gab es einfach nichts zu beschönigen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein rotztriefendes Schmuddelkind. Wenn es auch absurd war, war ich mir sicher, dass er noch immer nahezu unverändert aussähe. Sein dümmlicher Blick von damals hatte sich mir für alle Ewigkeit eingebrannt.

Es dauerte damals sehr lange, bis ich endlich komplett realisiert hatte, dass es zu einer Daniela, ein Mädchenname, der mir geläufig war, ein zugelassenes männliches Pendant gab. Einen Namen, der wie Daniela klang, aber zu meinem Entsetzen einem Jungen gegeben wurde. Weil ein Mädchen aus dem Kindergarten Daniela hieß, glaubte ich, mich ausreichend auszukennen, und somit war diese Namensgebung für mich unzulässig und falsch. Dass ein kleiner Junge mit einem Mädchennamen in unserer Nachbarschaft lebte, wollte mir einfach nicht in meinen kindlichen Kopf.

Schon allein seines Namens wegen mochte ich Daniele nicht. Italiener mochte ich auch nicht besonders, weil die sich diesen Mist ausgedacht hatten. Pizza und Spaghetti aber mochte ich immer schon. Das machte ihren Irrsinn bei der Namensgebung und meine Verachtung aber kaum wett. Meine Sandkiste im „Spieli“, wie unser Spielplatz kurz hieß, so wie wohl jeder andere auch, auch die liebte ich. Bis zu diesem einen Tag, als man Daniele zu mir in mein sandiges Territorium setzte, ungefragt natürlich. Seine Familie wohnte damals auf der gleichen Ecke wie meine Eltern und ich, eine Straße weiter, in einem verwahrlosten Altbau. Tatsächlich aber war es nur Daniele mit seiner Mutter. Der Vater wäre abgehauen, hatten mir meine Eltern erzählt. Darauf hatte ich mir schnell meinen eigenen Reim gemacht und es auf seinen schrägen Namen geschoben. Vermutlich wäre ich als Erwachsener auch eher abgehauen, als einen Sohn haben zu müssen, der einen Mädchennamen trug.

Etwa im Alter von fünf Jahren müsste alles begonnen haben. Das zumindest ergab meine Kalkulation unter Einbildung kindlicher Frühintelligenz, schneller Lernfähigkeit und der Tatsache, dass ich zwar windelfrei, aber noch nicht schulpflichtig war. Fortan teilte ich mein Leben nicht mehr nur mit meinen Eltern und einer Schar weiterer, nerviger und für mich unbedeutender Erwachsener, die uns besuchten. Später dann auch mit meinem Bruder, für den anfangs die gleichen Attribute galten, sondern gezwungenermaßen auch mit Daniele, irgendwie. Sprachlich war ich meiner, vor allem aber Danieles Zeit, frühzeitig weit voraus und ich konnte mich bereits ganz passabel artikulieren, während Danieles klägliche Sprechversuche eher klangen wie fiepender Dauerschluckauf. Und plärren konnte er, laut und schrill. Irgendetwas aber konnte ja jeder, meinte mein Vater in seiner gütigen Art. Verstanden hatte ich den Spott darin damals nicht. Zugegeben, Daniele war wohl circa ein Jahr jünger als ich. Nach Auffassung meiner Eltern machte mich das vertretungsweise zu so etwas wie einem Sandkisten-Erziehungsberechtigten für die Zeit, in der man den kleinen Nervbolzen an meine Seite gesetzt hatte. Dass dieses unfreiwillige Amt ausschließlich Nachteile für mich hätte, ahnte ich da noch nicht. Eigentlich wollte ich nur im Sand spielen. Alleine. Burgen bauen, Tunnel und Straßen. Brücken konnte ich noch nicht, die stürzten immer ein. Insgesamt sah ich mich perspektivisch trotz dieser Misserfolge besser im städtebaulichen als im pädagogischen Bereich aufgehoben. Diese kühnen Pläne wurden an dem Tag jäh durchkreuzt. Sowohl durch die elterlichen Absichten, Daniele und mich zusammenspielen lassen zu wollen, als auch durch Daniele selbst.

Neben seinen offenkundigen sprachlichen Startschwierigkeiten waren es die motorischen Fähigkeiten, die bei Daniele vollkommen unausgeprägt waren. Er war vom Tunnelbau so weit weg wie ich davon, diese Nervensäge mögen zu können. Ständig verbuddelte er Matchbox-Autos und allerlei Überraschungseier-Gedöns im Sand und fand sie einfach nicht wieder. Wirklich danach gesucht hatte er nicht. Er war ein Aufgeber, kein Kämpfer. Einfach ein kleiner Drecksack, wie gesagt. Nach dem verschütteten Spielzeug zu suchen, war nicht sein Ding. Er bevorzugte einen komplett anderen, einfacheren Lösungsansatz.

Es war nämlich typisch für ihn, sich kurzerhand im fiependen Kriechgang im ordentlich aufgereihten und stets abfahrbereiten Fuhrpark seines zugeteilten Kastenaufsehers nicht nur umzusehen, sondern sich auch dreist und ungefragt darin zu bedienen. Ein stets kurzer Triumph. Es dauerte nie lange, bis Daniele dann auch mein Eigentum wahlweise in den unergründlichen Tiefen des Sandes versenkte, oder es sich, als ich es zurückhaben wollte, kurz entschlossen in den Mund steckte, bis er daran zu ersticken drohte. Noch wirkungsvoller war seine Idee, sich vor meinen ungläubigen Augen das Spielzeug in die Windel zu schieben und mich rotzfrech anzugrinsen. In eine Windel, die zu allem Überfluss, nomen est omen, meistens voll war. Es stank bestialisch, weil seine Mutter ihre eigenen Aufgaben in meiner mir auferlegten Aufsichtspflichtphase vernachlässigte.

Die frönte derweil mit den wenigen, vermutlich alleinerziehenden Männern, die sich um den Spielplatz tummelten, bevorzugt einem ausgiebigen, aber aussichtslosem Balzverhalten. Danieles Mutter war nicht nur optisch ausgesprochen unansehnlich, sofern ein etwa Fünfjähriger das überhaupt beurteilen konnte. Vor allem aber, da war ich nicht von abzubringen, würde niemand eine Frau haben wollen, die die Mutter eines Daniele war. Einem Mädchenjungen, der fiepte, heulte, stahl und stank.

Ich flehte meine Eltern an, nicht mehr mit Daniele spielen zu müssen und erfand die abenteuerlichsten Geschichten, um meiner eigentlich geliebten Sandkiste fernbleiben zu dürfen. Vergebens. Sie waren wohl zu sehr abenteuerlich und meine Absichten zu durchschaubar, befürchtete ich. In den Ohren meiner Eltern klangen sie wohl zu süß und unbedarft, als dass sie Früchte trügen. Dann nahm ich mir vor, mehr Gelassenheit walten zu lassen, ihn einfach nicht zu beachten. Ich müsste einfach besser auf meine Autos und meine sandigen Infrastruktur-Entwürfe achtgeben. Doch Daniele machte mir auch hier einen Strich durch die Rechnung. In einem unaufmerksamen Moment, vermutlich tüftelte ich gerade sehr konzentriert und erdnah an der Statik für mein neues Brückenprojekt, passierte es. Derart fokussiert konnte ich ihm keine Beachtung schenken und so hatte sich Daniele plötzlich über mir aufgebaut und grinste mich listig an. Zu spät erkannte ich, dass dieses kleine Ferkel sich unbemerkt sein Höschen und die Windel heruntergenestelt hatte und sich fröhlich grienend vor meinen Augen auf seine Füße und in meinen Sandtunnel erleichterte, in dem noch mein linker Arm feststeckte.

Das war dann wohl meine erste bittere Erfahrung asozialen Verhaltens. Es war einfach ekelhaft und das fand ich nicht nur, aber auch, weil ich selbst, wie erwähnt, seit einigen Wochen trocken war. Alleine dadurch fühlte ich mich Daniele in evolutionärer Hinsicht klar im Vorteil. Seine Mutter näherte sich, angestachelt durch meinen spontanen Hysterie-Ausbruch, in gemächlichem Tempo. Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu und zog dem kleinen Idioten seine nassen, sandigen Sachen wieder über. Sie schleifte ihn, mehr dass er lag, als dass er lief, aus der Sandkiste und pöbelte fortwährend, dass sie den Tag bereute, an dem er geboren wurde. Da tat er mir zum ersten und einzigen Mal wirklich leid.

Je mehr ich mich bemühte, Danieles Infantilität, von der ich mich selbst längst als entrückt betrachtete, ignorieren zu wollen, um mein Ding durchzuziehen, umso mehr fühlte der sich offenbar von mir provoziert. Von da an zeigte er mir die ganze Grausamkeit eines Kindes, das niemand lieben konnte. Dessen war ich mir damals jeden Tag ein kleines Stück sicherer. Heute sah ich die Sache differenzierter. In Nuancen zumindest.

Daniele merkte sehr schnell, dass es mir Schwierigkeiten bereitete, Ruhe zu bewahren, wenn er mir mein Zeug entwendete, um es gleich darauf aus der Sandkiste zu schleudern. Nicht ohne vorher absichtlich darauf gesabbert zu haben. Ein harmonisches Miteinander war von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Kaum hatte ich ein glänzendes Bauvorhaben erfolgreich in die Tat umgesetzt, rollte die halbitalienische Miniwalze darüber hinweg und zerstörte ein ums andere Mal die Ideen zu meiner Stadt der Zukunft. Lautstarke Proteste meinerseits verhallten stets im Nichts. Wenn ich das elterliche Schiedsgericht anrief und eine überfällige Entscheidung getroffen haben wollte, die zweifelsfrei zu meinen Gunsten auszufallen hatte, passierte ebenso nichts. Von der Trulla, die sich Mutter nannte, nämlich der von Daniele, war nichts anderes zu erwarten, das hatte ich gelernt. Oft fragte ich mich, ob sie womöglich einen ähnlich dämlichen Namen trug wie ihr Sohn. Nach ein paar Tagen nannte ich sie in meiner Vorstellung Frauke. Den Namen hatte ich im Fernsehen gehört und fand ihn schrecklich. Manchmal nannte ich auch Daniele Frauke, um ihn zu ärgern. Frauke war noch schlimmer als Daniele.

Auch von meinen Eltern wurde trotz eindeutiger Beweislast, nämlich einem Trümmerfeld im Sandkasten, stets gegen mich entschieden. So war zumindest mein Empfinden, jedenfalls fiel ein Urteil niemals eindeutig zu meinen Gunsten aus. Später würde man diese erzieherische Unentschlossenheit mit dem Wort Vergleich bezeichnen und alle würden sich freuen, außer dem natürlich, der den Schaden hatte.

Die Begründungen waren so niederschmetternd wie richtungsweisend für meine Zukunft. Warum ich nicht besser aufgepasst hätte und ich wäre doch wohl alt genug, um wegen solcher Lappalien nicht stets einen solchen Aufstand zu machen. Immerhin wäre ich ja der Vernünftigere und Daniele viel jünger als ich. Inwiefern man als Fünfjähriger sehr viel älter sein konnte als ein Daniele, ab wann man Vernunft von einem kleinen Kind erwarten konnte, erschloss sich mir schon damals nicht. Ich heulte, ich pöbelte, ich schmiss mich auf den Boden. Im Endstadium meiner kindlichen Theatralik stopfte ich mir sogar Sand in den Mund. Das hatte ich mir von Daniele abgeguckt. Was das hätte bewirken sollen, war mir aber nicht klar. Ich wusste nur eines: Ich wollte mir Justitias Wohlwollen unter allen Umständen sichern. Doch vergebens, sie war damals schon erblindet.

Vehement plädierte ich auf Danieles sofortiger Ausweisung, zunächst lediglich aus meiner Spielkiste, weil mir anderweitige Ausweisungen nicht bekannt waren und ich von „Political Correctness“ noch nichts gehört hatte. Er sollte einfach nur aufhören, mir mein Leben zu verpfuschen. Wer wusste schon damals, was das Leben aus einem machte, wenn man in seiner zarten Blütezeit von sabbernden, destruktiv veranlagten Hosenpissern geprägt wurde und einem niemand schützend zur Seite stand. Wenn sich niemand für Gerechtigkeit einsetzte. Ich zumindest wusste es nicht. Woher auch?

Als mein Vater mich aufgrund meiner nicht nachlassenden Starrköpfigkeit am gleichen Abend zum zweiten Mal in jener Woche ohne Abendessen ins Bett schickte, wusste ich, dass ich diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen musste. Operation „Quäle Daniele“ war eingeläutet.

Am nächsten Tag, gerade hatte Daniele voller Lust meine bis dahin wohl gelungenste zweispurige Eimerchen-Überführung stampfend zum Einstürzen gebracht, war es so weit. Dieses Mal aber war ich gut vorbereitet. In den letzten Tagen hatte ich viel Zeit außerhalb des Sandkastens verbracht. Ich spürte, dass sich eine glorreiche Epoche meiner Adoleszenz dem Ende näherte. Langsam begriff ich, dass ich von einem kleinen Jungen zu einem größeren Jungen mutierte. Das machte mich stolz und ein bisschen erwachsen. Manchmal bedurfte es in seinem Dasein wohl eines Danieles, um zu erkennen, dass es ein Leben außerhalb des Sandkastens gab. Ohnehin schien mir der Boden darin irgendwann verseucht und der Sand ekelte mich an. Die Frage, wie viele Generationen vor mir ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich, ohne dass jemals eine Reinigung erfolgt war, stellte ich mir erst sehr viel später. Jedenfalls hatte ich seit längerer Zeit eine Gruppe Jugendlicher im Visier. Sie hielten sich in fußläufiger Nähe auf und hatten sich eines Tages einen Spaß daraus gemacht, sich den Schwächsten ihrer Gruppe herauszupicken und ihn einer mir bis dahin unbekannten Art spielerischer Folter zu unterziehen.

Aus meinem sicheren Versteck heraus, hinter einem stacheligen Busch, der weitläufig an den Spieli grenzte, konnte ich sehen, wie der Größte, offenbar der Anführer der Gruppe, sich unter lautem Gejohle der anderen an einem Busch zu schaffen machte. Er trug dünne Handschuhe und pflückte so viele der roten Früchte ab, bis er eine Hand voll hatte. Dann zerdrückte er sie und zerrieb den Inhalt zwischen seinen Fingern. Während zwei seiner Freunde ihr ängstlich winselndes Versuchskaninchen gewaltsam im Zaum zu halten versuchten, schob der Chef ihm das T-Shirt nach oben. Genussvoll und lautstark von seinen Freunden angeheizt, verrieb er den Inhalt seiner Hände auf dem nackten Rücken des fortan wild zappelnden und noch lauter schreienden Jungen. Kurz war ich versucht, ihm zur Hilfe zu eilen. Ohne aber zu wissen, was genau dort passierte und ob er diese Behandlung nicht sogar verdient hatte, ließ ich es dann bleiben.

Am gleichen Abend erzählte ich aufgeregt und wissensbegierig meinen Eltern davon und erfuhr von ihnen das Geheimnis der Hagebutte. Der darauf folgende Tag war ein sehr schöner. Gleichzeitig bis heute der letzte Tag, an dem ich Daniele gesehen hatte. Vorgesorgt hatte ich diesmal auch. Eine Tüte Kekse aus der Speisekammer nannte ich an jenem Abend mein Abendessen. Hätte ich nicht irgendwann die elterlichen Sanktionen durchschaut, wäre ich wohl eines Tages verhungert.

ausgeSPACKT!

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