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Kapitel 22

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Rip sieht schemenhaft eine Gestalt. Wer auch immer es ist, Rip muss dringend Erste Hilfe leisten. Er schluckt trocken und stellt fest, dass ihm irgendetwas in die Magenwände sticht – das muss vom Adrenalin kommen, das die Angst die ganze Zeit in ihm freisetzt. Er schnappt sich den Türgriff und zieht sie langsam nach außen. Das Licht im Fahrerraum geht an und Rip schreit auf.

Denn am Steuer sitzt keine Person, sondern eine Leiche. Die Leiche einer Frau. Sie hat einen pastellrosafarbenen Parka an, auf dem überall getrocknetes Blut klebt. Ihr Kopf ist zurückgeworfen, der Mund zu einem Schmerzensschrei eingefroren. Dort, wo eigentlich ihre Augen sein sollten, ist nur noch getrocknetes Blut. In ihrer Kehle fehlt ein riesiges Stück Fleisch. Aber so schlimm das auch alles ist, am entsetzlichsten ist die Tatsache, dass sie von der Brust bis zum Bauchnabel aufgeschlitzt ist und dort jetzt ein riesiges Loch klafft. Der Kegel von Rips Taschenlampe wandert über die Innenseiten ihrer Rippen und verliert sich dann in den schwarzen Schatten eines riesigen Hohlraumes. Rip muss seinen Blick abwenden.

Er hat die Leiche maximal drei Sekunden angestarrt und trotzdem reicht dies schon aus, um diesen Anblick nie wieder vergessen zu können. Schon bei dem Gedanken daran wird ihm übel. Aber er darf jetzt nicht schlappmachen, er muss in den Wagen steigen und den Sheriff anfunken, auch wenn ihm absolut schleierhaft ist, wie Teague die Leiche im Auto übersehen haben konnte.

Dann denkt er: Vielleicht war sie da noch gar nicht im Wagen. Vielleicht hat sie jemand erst hinterher dort platziert!

Also, das ist wirklich nicht die Art von Gedanken, die er jetzt gerade denken sollte. Nicht hier … nicht in so einer Nacht.

Als er sich auf den Weg zur Fahrerkabine macht, hört er plötzlich das seltsame Rasseln wieder. Er schüttelt den Kopf, eine klassische Übersprunghandlung als Reaktion auf die Angst, die Frustration … und die Verwirrung. Hier ist nicht nur irgendetwas falsch, es ist außerdem verdammt krank und beschissen pervers!

Exakt diese Worte rasen ihm durch den Kopf und er hat das ungute Gefühl, dass er in dem Moment, als er seinen Abschleppwagen verlassen hat, auch die Realitätsebene verlassen hat, die er sein gesamtes Leben lang gekannt hat. Nun befindet er sich in einer anderen Welt, wo die Dinge viel finsterer und auf die schlimmstmögliche Art und Weise abartig sind.

So gut es geht, versucht er diese Gedanken beiseitezuschieben und kommt endlich an der Fahrertür an, wo ihm etwas auffällt, das ihn unwillkürlich auflachen lässt, obwohl er viel lieber panisch schreien würde. Jemand hat einen schwarzen, glänzenden Luftballon an den Außenspiegel gebunden, der wie wild im Wind tanzt.

Jetzt hat Rip noch mehr Angst davor, einzusteigen.

Die Unsicherheit lässt ihn komplett erstarren. Er hört das Geklapper wieder und dreht sich um … und vor ihm steht ein Clown! Ein gottverdammter Clown. Er ist mit einem dünnen, schwarzen Overall bekleidet, auf dem vorn eine Reihe roter Puschel prangt.

Unbewusst blinzelt Rip betont langsam, wie man das aus Filmen kennt, wenn die Darsteller etwas sehen, das eigentlich nicht da sein kann. Einen Moment lang scheint das Bild des Clowns zu verschwimmen, wie in einem Hitzeflimmern. Es wabert kurz, wird dann aber wieder scharf. Das Gesicht des Clowns ist so weiß wie ein Fisch und mit dünnen, schwarzen Rissen übersät, wie eine antike Vase. Sein grinsender Mund glänzt knallrot und feucht, so als würde er bluten. Die Augen sind wie rote Edelsteine, die in schwarze Ovale eingepasst worden sind. Einzelne Locken wachsen aus den Seiten seines Schädels. Sie wackeln sanft im Wind.

Rip fängt an zu schwitzen und die Tropfen fühlen sich zuerst kalt und dann unerträglich heiß an. Die Flüssigkeit läuft ihm den Rücken hinunter. Sie verdampft von seiner Stirn.

Der Clown macht jetzt einen Schritt auf ihn zu, und während er das tut, dreht sich sein Kopf auf seinen Schultern im Kreis … immer weiter und weiter … Umdrehung für Umdrehung, und dabei macht er weiterhin das rasselnde Geräusch, das Rip die ganze Zeit gehört hatte.

Rip spürt, wie sich ein gewaltiger Schrei in seiner Kehle aufbaut. Er bläst sich auf wie ein Gasballon und wird größer und größer. Wenn er endlich aus seinem Mund hinausschießt, wird er garantiert unglaublich laut sein. Es wird der Schrei eines wahnsinnig Gewordenen sein. Er wird ihm sämtliche Luft aus den Lungen ziehen und dann wird Rip in purem Entsetzen auf die Knie sinken und anschließend endgültig den Verstand verlieren. Sein Hirn wird aufplatzen wie eine eitrige Blase und seine Vernunft wird einfach hinauslaufen und sich im Schnee verlieren.

Lauf weg, befiehlt ihm eine Stimme in seinem Inneren. Renn! Versteck dich! Mach schon! Gib Gas! Bitte, bitte, tu doch irgendwas! Er kommt immer näher …

Und so ist es. Der Clown kommt wirklich immer näher. Er macht zwei oder drei Schritte vorwärts, dann bleibt er stehen und sein Kopf wirbelt rasselnd herum. Als er wieder nach vorn schaut, ist sein Gesicht genauso verwischt wie sein Fleisch. Der rote Mund und die roten Augen zerlaufen und vermischen sich mit dem grauenhaft hellen Weiß seiner Haut, so als bestünde er nur aus ekelhaftem, mit Spucke vermischtem, pinken Kaugummi, das lang gezogen und außer Form ist.

Rip macht jetzt ein Geräusch, das nicht mehr viel mit dem Schrei gemein hat, den er sich vorgestellt hat. Es ist eher das erschreckte Aufjaulen eines verletzten Tieres. Er stolpert panisch rückwärts und der Blizzard lässt den Clown verschwinden, als würde er ihn aus dieser Welt radieren.

Der Schnee scheint jetzt aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Er peitscht und prasselt von überall her auf ihn ein, Rip kann es kaum noch aushalten. Er wird umgeworfen und geht zu Boden. Inzwischen kann er nicht einmal mehr den Abschleppwagen sehen. Er ist verschwunden, und Rip ist allein, gestrandet in dem Chaos eines arktischen Sturmes.

Als die Sicht wieder etwas besser wird, muss er leider feststellen, dass er ganz und gar nicht allein ist.

Eine Gestalt kommt jetzt aus dem Nebel auf ihn zu, doch es ist nicht der Clown. Nein, es ist eine schlanke, weibliche Gestalt. Ein schiefer, wandelnder Leichnam. Es ist die Frau aus dem Auto. Der Wind macht stöhnende Geräusche, als er durch ihren ausgehöhlten Körper bläst. Ihre Rippen stehen nach vorn ab wie Mistgabeln. Sie ist komplett ausgeweidet und überall ragen Knochen aus ihrem Körper wie spröde Äste. Am Hals ist ihr Kopf abgeknickt, das Gesicht ist grau und mit Frost überzogen wie ein verschrumpelter Lederbeutel. Ihre Lippen sind schwarz und aufgeplatzt.

Außerdem hat sie keine Augen mehr.

Mit Fingern, die aussehen wie die Klauen ausgemergelter Ratten, greift sie nach Rip. Er schreit erschrocken auf und stolpert in die Richtung davon, in der er den Abschleppwagen vermutet, doch dann hört er das Rasseln wieder und wulstige Clown-Hände bedecken von hinten seine Augen. Sie sind weiß und labberig, wie das Fleisch einer Leiche.

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