Читать книгу Die Biologie der Hunde - Tim Lewis - Страница 23
Andere Wege der Domestizierung
ОглавлениеEs gibt weitere Wege, wie die Domestizierung von Hunden ablief. Wildlebende Wolfsrudel bewachen Ressourcen. Ein Hund mit Orientierung am Menschen wird sowohl den Menschen als auch dessen Ressourcen als die Ressourcen seines Rudels betrachten. Wie man leicht an den sehr speziellen und vererbbaren Hüteinstinkten bei Hunden einer Arbeitslinie erkennen kann, ist somit das Bewachen von Nutztieren eine vererbbare Eigenschaft. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, wird der Mensch immer nur ausschließlich die besten Wachhunde auswählen. Selbst einfaches Alarmbellen wäre eine nützliche Eigenschaft gewesen, mit welcher sich die Wahrscheinlichkeit, sich um seine hart verdienten Besitztümer bringen zu lassen, verringern ließe. Ich wünschte, jemand hätte sowas für unser späteres Zusammenleben herausgezüchtet!
Wölfe jagen im Rudel. Und viele ihrer Verhaltensweisen scheinen eher vererbt als angelernt worden zu sein. Den besten Beweis dafür liefern unsere Hütehund-Rassen, die dieselben instinktiven Verhaltensweisen zeigen wie Wölfe. Wolfsrudel schicken jüngere, schnellere Hunde vor, damit sie Fluchttiere wie Hirsche zum Rudel hin treiben. Es handelt sich um dasselbe Verhalten wie das „Senden“, das wir beim Schafehüten einsetzen, wenn wir dem Hund signalisieren, er soll die Schafe oder Rinder einkreisen und zu uns treiben. Wenn die Beutetier-Herde an Ort und Stelle festgehalten wird, ermöglicht dies den älteren Wölfen, sich heimlich anzuschleichen und ihre Beute auszuwählen. Von Hirten werden Hunde genau so eingesetzt, um Schafe und Rinder an Ort und Stelle zu halten. Bei Wölfen handelt es sich beim Selektieren und Isolieren der einzelnen Beutetiere für ihren Angriff um dasselbe Grundverhalten, mit welchem wir eine Herde sortieren, einige Schafe in ein Gehege und die anderen zurück aufs Feld treiben. Das Zurücktreiben der Herde auf die angreifenden Wölfe zu ist dasselbe Verhalten wie das Treiben von Rindern in einen Lastwagen hinein. Die Selektion hin zu einem kontrollierten Jagdverhalten, das nicht in den eigentlichen Angriff mündet, ermöglicht den Einsatz von Hunden, mit denen man domestizierte Ziegen, Schafe und Rinder hüten kann. Hunde, die es nicht schaffen, das Angriffsverhalten zu unterdrücken, werden ganz schnell ausgemustert.
Ein ganz anderer Domestizierungsprozess führt uns direkt zum Hund als unserem Gefährten. Wölfe sind Rudeltiere und man kann sie zähmen. Ein verwaister Welpe, der von einem Menschen aufgegriffen worden ist, weil dieser etwas Neues, Niedliches haben wollte, lehrte seine eigenen Welpen, Menschen gegenüber tolerant zu sein. Davon ausgehend wählten die Menschen weiterhin die besten Nachkommen aus. Einige der Nachkommen wanderten ab, um sich mit der lokalen Wolfspopulation zu vermischen. Doch viele blieben in der Nähe. Schon bald erhielten die Menschen eine Zuchtlinie von Haushunden, die sie verkaufen oder gegen Keulen und Speere tauschen konnten.
Bis hierhin handelt es sich ausschließlich um Beziehungen, bei denen die Hunde am Leben bleiben und sinnvolle Arbeit tun. Dies waren ganz offensichtlich Vorstufen der vielen Aktivitäten, die man heute mit Hunden unternehmen kann. Nun ist ein Hundefell ja sehr warm. Jeder Wolf im kanadischen Winter kann Ihnen das bestätigen! Wenn man das Spinnen von Wolle nicht beherrschte, war also die Hundehaltung sehr sinnvoll. So hatte man eine Quelle für warme Winterbekleidung. Wer stets die besten Exemplare bezüglich des Fells ausgewählt hat und dann viele der Nachkommen zur Mantelherstellung hernahm, dem ging es recht gut. Damals konnte man sich bei der Firma Patagonia ja noch keine warmen High-Tech-Outdoorklamotten als Alternative kaufen. Daher musste man, um sich warm zu halten, auf die Felle einiger unglücklicher Tiere zurückgreifen. Ebenso stellte Hundefleisch eine willkommene Abwechslung in der Ernährung dar und bot dazu noch eine Umwandlung von menschlichen Abfällen in essbare Proteine.
Warum waren es aber nun die Wölfe, und nicht etwa Kojoten oder Füchse? Das ist eine gute Frage. Eben jetzt, in diesem Moment, höre ich Kojoten heulen. Diese hören sich deutlich friedlicher an als das unheimliche Heulen der Wölfe in der Wildnis im Norden. Im Vergleich zu Wölfen muten Füchse niedlich an, gar wie Spielzeuge, und friedlicher. Offensichtlich hätte der Mensch sich auch für einen von ihnen entscheiden können und hätte im Laufe der Zeit eine domestizierte Version des, wie wir Biologen sagen, „wilden Typs“ erhalten. Möglicherweise haben sie ja genau das getan und wir haben nur noch keine Beweise dafür gefunden. Ich vermute mal stark, und das ist wirklich nur eine Vermutung, dass es an der Größe liegen könnte. Ein Wolf kann eine Herde oder ein Dorf vor Kojoten schützen, aber umgekehrt geht das nicht. Ein Wolf kann schwerere Lasten ziehen als ein Kojote. Eine Wolfshaut ist größer und wärmer als die eines Kojoten. Weiterhin zu erwähnen wäre – wenngleich das auch nicht von zentraler Bedeutung für uns ist –, dass moderne Hunde von demjenigen Wolf abstammen, wie er vor Zehntausenden von Jahren gewesen ist und nicht vom heutigen Wolf. Nachdem wir eine Art Teilmenge für unseren Begleiter entnommen hatten, entwickelte sich die Wolfslinie in der Natur stetig weiter. Dann töteten wir die meisten Wölfe weltweit, damit sie unser domestiziertes Vieh oder unsere Kinder auf dem Weg zur Arbeit nicht fressen würden. Der einfache Vorfahre der heutigen Hunde ist der Wolf, wie er vor vierzig Jahrtausenden existierte, und nicht der heutige Wolf. Unter dem heutigen Wolf versteht man im Wesentlichen die größere, arktische Sorte, nicht den Präriewolf oder den Waldwolf aus den Wäldern der gemäßigten Zone in der Zivilisation der Vormoderne.
Die Koevolution einer Beziehung des Menschen mit einem anderen sozialen Tier, welches dazu beitragen könnte, ihn zu schützen, zu bewachen und zu verteidigen, scheint also unvermeidlich gewesen zu sein. Aber vielleicht kam das alles auch erst später. Vielleicht war es einfach nur angenehm, jene Hunde mit der niedrigen Fluchtdistanz um sich zu haben, sei es nun auf der Jagd, im Dorf oder rund um das Feuer herum. Vielleicht wollten die Hunde auch einfach nicht gehen. Und so ist der Mensch auf den Hund gekommen. Wir wissen nicht wirklich, wie lange es her ist, dass sich die Fähigkeit zu Sprechen und die Sprache selbst beim Menschen entwickelt haben. Die beste Schätzung geht davon aus, dass sich vor hunderttausend Jahren eine vereinfachte Sprache entwickelt hat. Das warme und pelzige Etwas konnte tatsächlich nicht wirklich viel reden und war damit sprachlich gar nicht so weit weg von den anderen, den menschlichen Begleitern. Vielleicht gilt das ja bis heute noch fort. Viele von uns sind auch heute, da die Menschen sich einer komplexen Sprache bedienen, weiterhin der Meinung, dass unsere Hunde ganz gut kommunizieren können.