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NEULICH IN PARIS

Wilder Efeu rankt dank der überbordenden botanischen Fantasien des Fin de Siècle über mich hinweg, kunstvoll geschnitzte Marmorintarsien verleihen dem verzinnten Tresen den Schliff des Art déco, während unzählige Spiegel das aufblitzende Licht der untergehenden Sonne und das rege Leben der Rue Jules Vallès als buntes Kaleidoskop des Savoir-vivre im 11. Arrondissement zurückwerfen.


Es grünt so grün von der Decke des Le Chardenoux: Im denkmalgeschützten Gemäuer ranken sich die kulinarischen Blüten von Mastermind Cyril Lignac wild um meine Geschmacksnerven.


Das Bastille-Viertel von Paris: Charmant, rau und unangepasst pulsiert das Leben im 11. Arrondissement.

Doch all das blende ich aus. Ich bin im Tunnel, absolut fokussiert. Denn in meinem Hirn johlen die Synapsen gerade vor Euphorie auf und fräsen in meine kulinarische Mindmap die Route zu etwas ein, das für mich die nächste Tomatensaison revolutionieren wird. Die Marschrichtung: ein Ensemble aus saftig-herben Tomatensorten, an das sich die vollmundige Fruchtsäure von perfekt gereifter Passionsfrucht schmiegen wird. Dazu kleine Würfel von Wassermelone, die kühle Fruchtigkeit spenden, und all das umhüllt von einer Wolke cremigem Rahmkäse. Simpel mit kräftigem Aromenspiel. Nicht verkopft, sondern lecker im besten Sinne und zum Tellerablecken gut. Perfekt für die Brasserie Colette.

FRANZÖSISCHE FRESSTOUREN UND SEELENSTRIPTEASE

Der elektrisierende Kuss der Muse trifft mich im Bistro Le Chardenoux, einer seit 1908 bestehenden Institution in Paris. Denkmalgeschützt, aber heruntergekommen, wurde die Brasserie vor zehn Jahren von Cyril Lignac übernommen, dem französischen Pendant von meinem Kumpel Tim Mälzer. Und was meinen Serotoninspiegel auf Höchstmarke schnellen ließ, war dessen „Stracciatella di Bufala/Pastèque/Tomate/Basilic“. Die Klarheit seiner Komposition in der von ihm geschaffenen, vor Leben pulsierenden Atmosphäre, genau das ist für mich zeitgemäße Brasserie. Ein Platz, zu dem man jeden Tag kommen kann – und wichtiger – möchte, weil es einen nicht in den finanziellen Ruin reißt und die Karte ständig und vor allem mit der Saison wechselt. Ein Ort, an dem gefressen und gesoffen wird. Dementsprechend geht es darum, Gerichte zu kreieren, die einfach zugänglich sind. Und genau deswegen bin ich in Paris: um Inspiration für neue Brasserie-Rezepte zu finden.


Und es hat Zoom gemacht: „Stracciatella di Bufala/Pastèque/Tomate/Basilic“ von Cyril Lignac.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich durch die Straßen von Paris streife, mich treiben lasse von dem Laissez-faire auf der Suche nach Caprice – seit der Eröffnungen der Brasserien Colette begleitet von deren kulinarischem Direktor Steve Karlsch. Auch er ist schon immer gerne gereist und verwandelt seine kulinarischen Eindrücke in aromenstarke Kreationen. Klassisch französisch trainiert ist seine Basis, seine Freiheit drückt er durch Gewürze und Zutaten aus aller Welt aus. Wie geschaffen für die moderne Brasserie-Küche.

Bereits meine allerersten Fresstouren als junger Küchenchef – vorher konnte ich es mir nicht leisten – führten mich nach Paris. Denn in den 90er-Jahren existierte weltweit nur eine Hochküche, und das war die französische. Alain Ducasse, Joël Robuchon, Pierre Gagnaire und Olivier Roellinger waren die Superstars zur Zeit meiner Kochausbildung. Bis heute bin ich geprägt von den Luxuszutaten der klassischen französischen Haute Cuisine: Kaviar, Hummer, Kaisergranat, Austern, Steinbutt, Seezunge, Hase, Geflügel und Foie-gras, Trüffel … all das halte ich für unverzichtbar in meiner Küche. Kostbare Streicheleinheiten für meine Kreuzberger Kiez-Seele.

Das Ziel meiner damaligen Reisen war, die Hochküche aufzusaugen, alles mitzunehmen, was geht. Dass dabei unterbewusst auch die Läden des kleinen Mannes dabei waren, macht sich heute bezahlt. Die Drei-Sterner konnte ich mir schlicht nicht zweimal am Tag leisten. Die Brasserien hingegen sind eben die Restaurants des Alltages, um die man in Frankreich keinen Aufriss macht. Trotzdem betreibt hier nahezu jeder Sternekoch und jede -köchin neben dem Grand-Restaurant noch einen bürgerlichen Ableger. Allen voran Alain Ducasse mit seinem Benoit, das mittlerweile auch besternt wurde. Alleine schon wegen der Gougères lohnt sich der Besuch. Wenn meine Lippen glänzen vor Butter und dem Fett des eingebackenen Käses, seufze ich bereits nach diesem Amouse-Bouche glücklich.

Paris ist und bleibt natürlich unangefochten die Hauptstadt der Haute Cuisine, aber für mich ist sie mittlerweile noch mehr das Epizentrum des unbeschwerten täglichen Genusses. Aber der klopfte erst am Vorabend der französischen Revolution im 18. Jahrhundert an die Türen der Stadt.

Tim Raue - Rezepte aus der Brasserie

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