Читать книгу Tim Raue - Rezepte aus der Brasserie - Tim Raue - Страница 21

Оглавление

À TABLE


Reifes Früchtchen: Küchendirektor Steve Karlsch ist die Freude an wunderbaren Produkten anzusehen.


Als mondäne Cousine des Bistros und gleichzeitig frivole Schwester des Restaurants, feiert die Brasserie den Champagner-Lifestyle mit einem Budget, das eher für eine Runde Vin de Pays d’Oc aus Languedoc-Roussillon ausgelegt ist. Damit sich das aber in keinem Fall an der gebotenen Qualität zeigt, geht die Brasserie kreative Wege. Und verwendet einfach alternative Fleischzuschnitte und günstiges, weil gerade auf dem Acker wachsendes, saisonales Alltagsgemüse. C’est ça.

Die Brasserie-Küche ist keine Produktküche, sondern eine Aromenküche. Eine Küche, bei der Gewürze, Garmethoden und das Geschick des Koches maßgeblich an dem Gelingen des Gerichtes beteiligt sind. Mit wenigen Zutaten begeistern und satt machen, darum dreht sich alles. Aufgrund der limitierten Preisstruktur nutzt man daher nicht die erlesensten, besten oder teuersten Zutaten. Die darf die Haute Cuisine mit erhobener Nase und Zeigefinger weiterhin für sich proklamieren. Es geht vielmehr darum, bürgerliche Fische wie Kabeljau, Merlan und Zander zu verwerten. Beim Fleisch haben Geflügel und Schmorstücke statt Filet das Sagen. Krake, Kalmar und Muscheln gehen immer, Krustentiere kommen und gehen mit ihrer Saison.

MARKTSCHREIER UND DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER

Auf meiner kulinarischen Pirsch durch Paris gibt es immer eine Adresse, bei der ich mein Weidmannsheil versuche. Denn die Ideen zu einem Gericht kommen oft mit dem richtigen Produkt. Und genau das gibt es nirgendwo geballter, frischer und konzentrierter als auf dem Marché d’Aligre im Bastille-Viertel. Leuchtend rote Tomaten, in allen Regenbogenfarben schillernde Fische, saftig grüne Kräuter, pastellfarbene Pfirsiche und fast schwarze Pflaumen: Das hier ist geschmackliches Breitbandfernsehen. Am Stand von Dorian Gautier in Ultra HD. Weniger als 25 Kilometer von seinem Marktstand entfernt, im beschaulichen Villiers-le-Sec in Île-de-France, zieht er sein für mich perfektes Gemüse. Perfekt deswegen, weil alles aus seinem Garten aromatische Vollgranaten sind. Manche krumm und schief, aber am Gaumen einfach nur der Kracher. Die Säure und Süße der Tomaten durchbohren meinen Gaumen wie ein Laserschwert, während die prallen, gelbgrünen Renekloden ihr edel-würziges Aroma zünden. Jawohl, so machen mir Obst und Gemüse Spaß.


Achtung Versuchung: Das leuchtende Rot der Tomaten verführt aber auch zum Hingreifen – und mich zu neuen Gerichten.


Selbst Bohnen verlieren bei Dorian ihr dröges Image und sind – wie am gesamten Marché d’Aligre – allgegenwärtig. Das macht deutlich, welche tragende Rolle diese kleinen Geschmackstorpedos im bürgerlichen Kocharsenal spielen. Ohne die Bohne würde dem urtypischsten aller französischen Eintöpfe, dem Cassoulet, die deftig-wohlige Dimension und den berühmten Kichererbsenfladen aus Nizza, den Socca, der knackige Protagonist fehlen.

Meine animalischen Gelüste treiben mich jedoch weiter in den überdachten Teil des Marktes, unter die architektonisch durchaus zu beachtenden Hallen. Der feine und gleichzeitig strenge Geruch nach Kuhmilch, Ziege und Fermentation führt mich ohne Umwege zur Fromagerie Hardouin-Langlet. 350 Sorten Rohmilchkäse in exzellenter Ausführung, von schlotzig, zart-cremig, blauäderig, Falten werfend und teilweise ein Odeur verströmend, dass es selbst mir die Nasenhaare aufrollt. Doch dann wieder sind es genau diese Sorten, die meinen Gaumen umschmeicheln wie die einer Geliebten, von der ich immer geträumt habe. Käse ist reizvoll, charmant und delikat – unabhängig von seinem derben Äußeren und seinem teilweise zum Himmel schreienden Gestank. Vielleicht ist er deswegen so passend für die Brasserie, weil er so ehrlich ist wie sie.



Intensive Aromen und interessante Zuschnitte: Das Stöbern durch die mehr als 350 Sorten Rohmilchkäse bei der Fromagerie Hardouin-Langlet und traditionellen Rindercuts kann schon mal länger dauern …

Deftig in einer anderen Liga geht es einige Ladenreihen weiter links zu. Hier werden Lammköpfe gegrillt. Das kann man mögen. Oder nicht. Unter stetigem Rotieren tropft das Fett der Lammköpfe langsam auf die darunterliegenden Pommes parisienne. Wäre der Anblick nicht ganz so verstörend, der Geruch verzückt mich. Ein im Gesamten gegrillter Lammkopf mit Hirn, Zunge und Augen ist die orientalische Antwort auf den deutschen Broiler und die rustikale Version des französischen Cervelle d’Agneau à la Ravigote. Also Lammhirn mit einer hinreißenden Sauce aus Essig und Öl, vermischt mit gehackten Kapern, Zwiebeln und Estragon. Ein Klassiker der Brasserie und nicht nur im Benoit ein Renner. Dort ist das beige-graue Gericht aber ebenfalls keine optische Erleuchtung. Im Gegensatz zu dem Cochon de lait, dem Milchferkel vom Spieß, das mir Metzgermeister Patrick Hayée in seiner gleichnamigen Metzgerei auf dem Markt direkt auf die Hand gibt.

Karamellbraune Kruste, und das pastellrosarote Fleisch kann ich mit meiner Zunge am Gaumen zerdrücken. Eine zärtliche Schweinerei. Wortwörtlich. Woran man erkennt, dass das hier ein Markt für Pariser ist, sind die typischen bürgerlichen Zuschnitte, die in der Vitrine fein säuberlich aufgereiht sind: der kräftig durchwachsene Nacken und der stramme Hals vom Rind, die ausgelöste Schulter vom Schwein, dicke Bäckchen und der Schlegel vom Kaninchen.

Alles langfaserige Muskeln mit besonders starkem Bindegewebe, das sich beim langsamen Schmoren in Brühe, Fond und Wein in Gelatine verwandelt. Mit dem bezaubernden Nebeneffekt, dass es das Fleisch herrlich mürbe macht. Im Prinzip wird gerne das verwertet, was nach stundenlangem Garen im Ofen erst richtig gut wird. Das gilt im gleichen Maße auch für alles, das fliegen kann – unabhängig von seiner Größe. Oder das, was eingelegt die Wintermonate übersteht, wie die gehaltvollen Confits und Rillettes, die in mir ungeahnte Glücksgefühle auslösen können, wenn die Süße von reifen Früchten in Form von Marmelade dazukommt. Das Ganze dann auf eine frische Brioche oder ein ofenwarmes Landbrot geschmiert, einfach köstlich und köstlich einfach.

Sollte ich in Zusammenhang mit Brasserien von leger sprechen, meine ich damit definitiv niemals die Küche an sich. Schmalz, Fett und Butter werden traditionell und selbst für mich in erstaunlich rauen Mengen in die Pfannen und Kasserollen gehauen. Die Historie als Bierwirtschaft lässt sich zwar durch das schicke Art-déco-Design der Pariser Läden nur mehr schwer erahnen, doch was auf die Tische kommt, verrät die ursprüngliche bäuerliche Herkunft.

Aber wie so vieles lässt sich auch das nicht pauschalisieren. Denn neben den klassischen und gediegenen Brasserien sprießen neue Pflänzchen aus dem aufgelockerten Gastronomieboden Frankreichs. Die hübscheste Blüte nennt sich, wie bereits erwähnt, öffentlichkeitswirksam Bistronomie und wurde zu Beginn der 90er-Jahre von Chef Yves Camdeborde herangezüchtet. Eine Demokratisierung von Bistrokultur und Feinschmeckerküche kombiniert zu einer zeitgemäßen Interpretation von Tradition. Und dennoch, trotz aller Modernität: Er, seine Kollegen und genauso ich bei den Colettes beziehen dann doch wieder genau das ein, was Brasserie ausmacht: Heimat. Aber in vielen Fällen liegt diese eben nicht am europäischen Kontinent.

GLOBALISIERUNG AM KÜCHENPASS

Französische Brasserie in der Anmutung der heutigen Zeit ist entschieden breiter gefächerter als noch vor 20 Jahren. Die Freiheit, Elemente der Haute Cuisine und gleichzeitig Bausteine aus der Bistroküche in einem Gericht zu verwenden, erschließt neue Geschmacksräume. Die Herkunft der jüngsten Generation an Küchenchefs ermöglicht neue Geschmackswelten. Gewürze wie Raz el Hanout und Harissa aus Nordafrika oder auch die süßsauren Aromen aus ehemaligen Kolonialländern geben den alteingesessenen Grundprodukten wie Entenkeule, Rinderhüfte und Dorade einen erfrischenden Kick. Und der erlaubt mehr Spaß, vielleicht auch einen Tick mehr Leichtigkeit und tritt der Ernsthaftigkeit der französischen Küche un petit peu in ihren oft etwas verstockten Hintern.

Ein gastronomisches Phänomen sind aktuell die japanischen Küchenchefs in Paris. Die Jungs minimalisieren französische Brasserie auf eine noch nie da gewesene Art. Diese Art von Fokus und Präzision finde ich immer spektakulär. Vor allem wenn die Idee und die Umsetzung auf Augenhöhe stattfinden. Ein kulinarischer Seiltanz ganz oben in der gastronomischen Zirkuskuppel. Sota Atsumi etwa, der als feingeistiger Rebell die Arena betrat und sie maßgeblich veränderte. In der Clown Bar gab er jeden Abend eine Galavorstellung moderner Brasserie-Kunst, sein Nachfolger Axel Gallart führt dieses Können nun weiter. Seinen Namen verdankt der Kultladen im 11. Arrondissement den denkmalgeschützten und reich verzierten Fliesen.


Nass macht sich nur der Clown: Die etwas frivole Mosaikzusammenstellung entspricht den satten Beats der Aromen, die in der Clown Bar auf meinen Gaumen prasseln.

So dicht gedrängt wie das Publikum dort an den kleinen Tischchen und an der verzinnten Bar sitzt, knallen auch die Geschmäcker auf dem Gaumen. Das exzellente Pithivier von Gans und Ente ist eine undogmatische Hommage an die Brasserie-Tradition. Entenbrust und Foie gras umschlingen einander in einer krossen Butterteighülle, die typisch für Frankreich ein klein wenig überbacken ist. Denn bei allem internationalen Einfluss, globaler Kritik und dem Verbot in einigen Ländern: Foie gras ist und wird immer Bestandteil der französischen Küche sein. Egal ob zu Hause am Esstisch, in der Haute Cuisine oder in der Brasserie. Als Teil einer Kultur, die den Genuss als ihr oberstes Gebot sieht, ist Foie gras ihre Hostie. Auch das kann man mögen, oder eben nicht. Abhilfe schafft die Verwendung von ungestopfter Leber. Was bleibt, ist die ungebrochene Liebe zu Innereien.

Und die spielt das Rezept von Atsumi in absoluter Perfektion bei einem der Signature-Gerichte der Clown Bar aus: Kalbshirn mit Ponzu-Dressing. Die unfassbar samtene Textur des Hirns, das als solches auch gut erkennbar serviert wird, wird umspielt von der würzig-sauren Umami-Bombe des japanischen Ponzu-Dressings. Klein geschnittene Frühlingszwiebeln setzen beides in einen frischen, zeitgemäßen Kontext. Und der lautet bei mir: Eine bessere Verbindung von Alt und Neu habe ich selten erlebt.


Dank Köchen wie Sota Atsumi, David Rathgeber oder Cyril Lignac finden Paris und ich immer wieder neue Anknüpfungspunkte. Genauso aber auch durch Landwirte wie Dorian oder den Metzger Patrick, die durch ihre Arbeit ein kulinarisches Erbe erschaffen, das für ganze Generationen prägend ist. Und für mich und meine persönliche Auffassung davon, was Brasserie ist und zukünftig sein kann. Denn Brasserie entwickelt sich mit jedem Tag, an dem sie gelebt wird, weiter. Und wenn ich eines auf meinen Reisen jedes Mal aufs Neue von den Franzosen lernen darf, dann dass Essen und Genuss auch im Alltag in vollen Zügen gelebt werden muss. Ungezwungen und ungezügelt, lachend und johlend, gierig und mit Tellerablecken – am besten bei jeder Mahlzeit und an jedem Tag.

TIM RAUE

» Bistronomie ist die Demokratisierung von Bistrokultur und Feinschmeckerküche kombiniert zu einer zeitgemäßen Interpretation von Tradition. «

Tim Raue - Rezepte aus der Brasserie

Подняться наверх