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Ein Sinn für das Transzendente

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Ein zweiter Grund, warum Religion selbst in unserem säkularen Zeitalter vielen Menschen weiterhin sinnvoll erscheint, ist eher existenzieller als intellektueller Natur. Der Harvard-Professor James Wood berichtete im New Yorker- Artikel „Is That All There Is?“ („Ist das alles, was es gibt?“) von einer befreundeten analytischen Philosophin und überzeugten Atheistin, die einmal mitten in der Nacht von einer tiefen Angst gepeinigt hochschreckte. „Wie kann diese Welt das Ergebnis eines zufälligen Urknalls sein? Wie konnte es keinen Plan und keinen metaphysischen Sinn geben? Kann es sein, dass jedes Leben – angefangen bei mir, meinem Mann, meinen Kindern usw. – kosmisch völlig bedeutungslos ist?“26

Wood, der selbst ein säkularer Mensch ist, gibt zu, dass „wenn man älter wird und Eltern und Freunde allmählich sterben, die Todesanzeigen in der Zeitung nicht länger Botschaften aus einer fernen Welt sind und die eigenen Projekte einem immer müßiger und flüchtiger erscheinen, solche Momente von Furcht und Nichtbegreifenkönnen häufiger und bohrender werden und, wie ich feststelle, genauso mitten am Tage auftauchen können wie in der Nacht“.27

Was ist dieses „Nichtbegreifenkönnen“, das so plötzlich selbst säkulare Menschen packen kann? Die Fragen der Freundin offenbaren eher eine intuitive Ahnung als einen Gedankengang – das Gefühl, dass wir mehr sind und dieses Leben mehr ist als das, was wir in der materiellen Welt sehen können. Steve Jobs bekannte im Angesicht seines nahenden Todes, dass es ihm „seltsam erschien, dass man alle diese Erfahrungen sammelt … und dann ist alles einfach weg. Deshalb möchte ich wirklich glauben, dass etwas überdauert, vielleicht unser Bewusstsein“. Es passte für ihn nicht zur Wirklichkeit, dass etwas so Bedeutsames wie das menschliche Ich einfach durch den Tod abgeschaltet würde – „Klick, und du bist weg“.28

Lisa Chase, die Witwe des bekannten Journalisten Peter Kaplan, weist das geschlossene Weltbild des konsequenten Säkularismus ebenso zurück und glaubt, dass ihr verstorbener Ehemann im Geist weiterlebt. Am Ende ihres Essays in Elle zitiert sie ihren trauernden Sohn, der sagt: „Ich wünschte, wir würden in einer magischen Welt leben, in der Wissenschaft nicht die Antwort auf alle Fragen ist“. Chase, die im Herzen des intellektuellen, progressiven Manhattans lebt, folgert, dass die „magische Welt“ ihres Sohnes tatsächlich der Wahrheit näher kommt als die säkulare Welt – zu stark waren ihre intuitiven Eingebungen über die Wirklichkeit des Transzendenten jenseits der natürlichen Welt geworden.29

Manchmal löst diese Intuition einen Protest gegen die Art des Säkularismus aus, das Leben zu verflachen und zu reduzieren, sodass „all unser Geben und Nehmen nur darauf hinausläuft, weiter zu zappeln und auf den Tod zu warten“.30 Ein andermal ist es eher die positive Wahrnehmung von Realitäten, die nach unserem objektiven Verstand eigentlich nicht real sein können. So bewegen bestimmte Kunstwerke den englischen Schriftsteller Julian Barnes in einer Weise, wie sie es eigentlich nicht sollten. Mozarts Requiem schöpft aus dem christlichen Verständnis von Tod, Gericht und dem Leben nach dem Tod, ohne das seine überwältigende Wirkung nicht zu erklären ist. In seinem objektiven Verstand verwirft Barnes solche Ideen und glaubt, dass nach dem Tod nur noch die Verwesung kommt. Trotzdem berührt ihn das Requiem, und das nicht nur durch die Musik, sondern auch durch die Worte, sodass er von der „quälenden hypothetischen Frage für den Nichtgläubigen“ schreibt: „Was wäre, wenn [das Requiem] wahr wäre?“31

Der Philosoph Charles Taylor fragt, ob Menschen wie Barnes erklären können, warum solche Kunst sie so tief berührt. Manchmal werden wir so sehr von solchen Erfahrungen überwältigender Schönheit „erschlagen“, dass wir uns genötigt sehen, das Wort „spirituell“ zu gebrauchen. Säkulare Denker wie der Harvard-Wissenschaftler Steven Pinker lehren uns stets, dass der Ursprung des Sinnes für Ästhetik nur etwas gewesen sein kann, das wie alles andere unseren Vorfahren das Überleben sicherte und uns dann über die Gene übertragen wurde.32

Doch solche reduktionistischen Erklärungen untermauern letztlich nur Taylors Argument. Denn die meisten Menschen (nicht nur religiöse!) werden lautstark protestieren und sagen, dass Schönheit mehr sein muss. Taylor schreibt: „Hier ist der Nichtgläubige herausgefordert, ein nicht-theistisches Register zu finden, das er ziehen kann, um auf [großartige Kunstwerke] ohne Verarmung zu reagieren.“33 Ich denke, Taylor meint damit: Wenn man voller Freude und Staunen ein Kunstwerk genießt, erscheint es einem ärmlich, daran erinnert zu werden, dass dieses Gefühl lediglich eine chemische Reaktion darstellt, die unseren Vorfahren geholfen hat, Nahrung zu finden und Feinden zu entfliehen. Man muss sich vor seinen eigenen säkularen Sichtweisen schützen, um ein solches Kunsterlebnis in seiner ganzen Tiefe machen zu können. Es ist schwer, „ernsthaft Freude an Musik zu haben, wenn man weiß und sich erinnert, dass die bedeutungsvolle Atmosphäre bloß eine Illusion ist“.34 Leonard Bernsteins Geständnis ist berühmt, dass er den „Himmel“ spürte, eine gewisse Ordnung hinter den Dingen, wenn er große Musik und große Schönheit hörte. „[Beethoven] hat den wahren, guten Stoff vom Himmel, die Kraft, dir das Gefühl zu geben, am Ziel zu sein: Etwas stimmt in der Welt. Da ist etwas, das in allem über uns wacht und stets seinem eigenen Gesetz folgt: etwas, dem wir vertrauen können, das uns nie enttäuschen wird.“35

Ist es möglich, dass Kunst in Menschen weiterhin die unentrinnbare Ahnung wecken wird, dass es mehr im Leben gibt, als der wissenschaftliche Säkularismus erfasst?

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