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Standpunkte ohne Voraussetzungen?

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Denken und Beweisen beginnt also mit dem Glauben an die Vernunft und einer bestimmten Vorstellung davon, wie Beweise auszusehen haben. Es ist allerdings bei gewöhnlicher Rationalität noch mehr Glauben im Spiel: Denker des 20. Jahrhunderts wie Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty oder Ludwig Wittgenstein haben dargelegt, dass jede Begründung auf Voraussetzungen aufbaut, die man annimmt („glaubt“) und nicht vorher begründet hat.14

Rationale Argumentation hängt beispielsweise von dem Glauben ab, dass unsere kognitiven Sinne (Augen, Ohren, Denken und Erinnerung) uns nicht täuschen. Doch das lässt sich nicht feststellen, ohne in Zirkelschlussargumentationen zu geraten. Wenn wir sie prüfen wollen, müssen wir sie einsetzen und setzen damit ihre Verlässlichkeit schon voraus. Ludwig Wittgenstein hat gezeigt, dass es unmöglich ist, zu widerlegen, dass die Erde nur hundert Jahre alt sei.15 Denken wir an den Film Matrix: Können Sie beweisen, dass Sie nicht irgendwo in einem Kasten stecken und aus Ihrem Hinterkopf ein paar Kabel herauskommen, die Sie mit einer anderen Wirklichkeit füttern? Solche fundamentalen Prämissen unseres Denkens können wir nicht beweisen. Wir glauben sie und weisen jeden zurück, der diese Annahmen infrage stellt, weil wir wissen, dass wir nicht hinter sie zurückgehen können, um sie zu beweisen.

Auch die Annahme, dass Wissenschaft und empirischer Beweis der einzige sichere Weg zum Verstehen der Wirklichkeit sind, setzt eine Sicht der Welt voraus, die auf Glauben beruht. So schreibt der amerikanische Philosoph C. Stephen Evans: „Wissenschaft ist von ihrem Wesen her nicht dazu in der Lage herauszufinden, ob es da noch mehr gibt als die natürliche Welt.“16 Wissenschaft setzt in ihrer Methodik voraus, dass jedes Phänomen eine natürliche Ursache hat. Deshalb gibt es kein Experiment, das beweisen oder widerlegen könnte, dass es etwas über die materielle Welt hinaus gibt. So lässt sich nicht beweisen, dass ein Wunder stattgefunden hat, weil der Forscher immer davon ausgehen müsste, dass die natürliche Ursache bis jetzt halt noch nicht gefunden wurde. Wenn tatsächlich ein übernatürliches Wunder geschehen würde, könnte die moderne Wissenschaft es nicht erkennen.

Evans schließt, dass die Aussagen „Es gibt keine übernatürliche Welt hinter der natürlichen“ oder „Es gibt eine transzendente Realität hinter der natürlichen Welt“ beide philosophischer Natur sind, nicht wissenschaftlich, und sich beide nicht zweifelsfrei beweisen lassen.17 Zu sagen, dass es Gott gibt oder nicht, beinhaltet also zwangsläufig einen Glaubensschritt. Die Behauptung, dass Wissenschaft der einzige Schiedsrichter der Wahrheit ist, stellt also keine wissenschaftliche Erkenntnis dar, sondern einen Glaubenssatz.

Wir kommen nicht ohne tiefere Annahmen über das Wesen des Seins (traditionell „Ontologie“ genannt) aus. Doch sie sind empirisch nicht nachprüfbar. Nach hinduistischer Philosophie ist die Welt der Ausfluss eines absoluten Geistes, sodass vieles an ihr nur durch Kontemplation erkannt werden kann. Dagegen geht westliche Wissenschaft davon aus, dass die Dinge aus sich heraus existieren, sodass alle materiellen Wirkungen auf vorherige materielle Ursachen zurückgehen.18 Wenn die indische Sicht stimmt, ist die Realität nicht völlig vorhersehbar. Westliche Wissenschaft setzt dagegen ein geschlossenes System von natürlichen Ursachen voraus, sodass prinzipiell alles vorhersagbar ist, wenn man nur genügend empirische Fakten kennt.

Kein Experiment der Welt kann austesten, ob die indische oder die westliche Sicht stimmt. Schon David Hume hat im 18. Jahrhundert unermüdlich darauf hingewiesen, dass unsere Wissenschaft auf Annahmen über die Welt aufbaut, die nicht bewiesen oder widerlegt werden können.19 Niemand kann sich von allen Annahmen und Überzeugungen frei machen und eine objektive, glaubensfreie, reine Offenheit für objektive Tatsachen annehmen. Es gibt keinen voraussetzungsfreien Standpunkt, keine Ansicht ohne Standort.

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