Читать книгу Glauben wozu? - Timothy Keller - Страница 15

Aber ist Religion nicht im Niedergang begriffen?

Оглавление

Ich kann mir gut vorstellen, dass mancher Leser bisher vielem folgen kann. Aber Sie mögen einwenden, dass doch trotzdem viel mehr Menschen ihren Glauben verlieren als ihn zu finden. Ein Schreiber in der Times in London versicherte seinen Lesern, dass Religion auf der Welt unweigerlich schwindet, „weil die Unfairness göttlicher Gerechtigkeit, die Irrationalität der Lehre oder die Vorurteile … die Menschen allmählich ärgern“. Er schloss damit, dass „Säkularismus und mildere Formen von Religion auf lange Sicht siegen werden“.60

Viele Menschen teilen diese Sichtweise. Dennoch steht die Beweislage dem völlig entgegen. Die Soziologen Peter Berger und Grace Davie berichten, dass „die meisten Religionssoziologen inzwischen zustimmen“, dass die Behauptung des Säkularismus, dass Religion zurückgeht, wenn die Gesellschaft moderner wird, „empirisch als falsch erwiesen ist“.61 Länder wie China werden immer religiöser (und christlicher), während sie sich modernisieren.62 Andere soziologische Studien wie das bahnbrechende Werk des Georgetown-Professors José Casanova haben keinen Abwärtstrend von Religion in moderner werdenden Gesellschaften festgestellt.63

Noch bemerkenswerter sind die demografischen Studien, die vorhersagen, dass langfristig nicht die religiöse Bevölkerung abnimmt, sondern die säkulare. Die Pew-Studie vom April 2015 rechnet hoch, dass der Prozentsatz von Atheisten, Agnostikern und Menschen ohne religiöse Bindung langsam, aber stetig abnehmen wird, von 16,4 Prozent der heutigen Weltbevölkerung auf 13,2 Prozent in vierzig Jahren. Erik Kaufmann, Professor an der University of London, spricht in seinem Buch Shall the Religious Inherit the Earth? von einer „Krise des Säkularismus“ und bezeichnet den Rückgang von Säkularismus und liberaler Religion als unvermeidlich.64

Dafür gibt es zwei Gründe. Einer hängt mit den Trends in Bezug auf die Beibehaltung der angestammten Religion bzw. dem Konversionsverhalten zusammen. Viele verweisen auf den wachsenden Prozentsatz jüngerer Erwachsener in den USA ohne religiöse Bindung als Beleg für den unweigerlichen Schwund von Religion. Doch Kaufmann zeigt auf, dass die meisten der neuen Religionslosen nicht aus konservativ religiösen Kreisen stammen, sondern aus liberaleren. Er schreibt, dass Säkularismus „vor allem die moderateren, für selbstverständlich genommenen Glaubensrichtungen aushöhlt, die davon profitieren, dass sie etabliert und Mainstream sind“.65 Deshalb werden gerade die „liberalen, moderaten“ Formen von Religion, die von den meisten säkularen Menschen für die überlebensfähigsten gehalten werden, nicht überleben. In religiös „konservativen“ Gruppen bleiben dagegen sehr viele ihrer Kinder dabei und sie führen mehr Menschen zum Glauben, als sie verlieren.66

Der zweite Hauptgrund ist, dass religiöse Menschen signifikant mehr Kinder bekommen. Je unreligiöser und säkularer eine Bevölkerung, desto weniger Ehen und desto kleiner die Familien.67 Das gilt für die ganze Welt und für jede nationale Gruppe, jedes Bildungsniveau und jede ökonomische Schicht. So stimmt es also auch nicht, dass religiöse Menschen mehr Kinder haben, weil sie weniger gebildet sind. Auch wenn sie über mehr Bildung verfügen und urban leben, bekommen sie noch weit mehr Kinder als weniger religiöse Menschen.68

Es dürfte klar sein, dass niemand die These aufstellen will „je mehr Kinder, desto besser“. Jeffrey Sachs, Wirtschaftswissenschaftler an der Columbia University, hat gut erklärt, dass Überbevölkerung und exorbitante Geburtenraten maßgeblich zur Armut auf der Welt beitragen.69 Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass es kein gegenteiliges Problem gäbe. Kulturen, deren Geburtenrate unter dem Selbsterhalt liegen, sterben aus und werden durch andere Bevölkerungsgruppen und Kulturen ersetzt. Wie Kaufmann und andere gezeigt haben, werden die säkularsten Gesellschaften durch die Einwanderung religiöserer Gruppen erhalten.70

In Europa und den USA werden religiös liberale Gruppen weiter Mitglieder an die säkularen Gruppen ohne religiöse Bindung verlieren, während traditionelle, lehrmäßig „orthodoxe“ Religionen wachsen.71 Für die kulturellen Eliten ist das schwer zu begreifen, denn für sie ist liberale Religion die einzig tragbare. Im Broadway-Hit The Book of Mormon sind die Hauptfiguren Missionare mit traditionellen Ansichten, die am Ende die Geschichten ihrer heiligen Schrift als Metaphern verstehen, die uns zur Liebe und zum Engagement für diese Welt führen. Gewissheiten über Gott und ein Leben nach dem Tod sind nicht nötig. Diese liberale Art von Religion, die nur horizontal und nicht vertikal ausgerichtet ist, gefällt einem säkularen Publikum in Amerika sehr gut. Doch nach den Ergebnissen der Soziologen ist sie die Art von Glaube, die am schnellsten ausstirbt,72 während Richtungen, die auf Bekehrung beruhen, exponentielles Wachstum aufweisen.

Vor ein paar Jahren sprach ich mit einem Mann, der vierzig Jahre in einer liberalen Großkirche (mainline denomination) in Manhattan als Pastor gearbeitet hatte. Er erzählte mir von seiner Ausbildung in den frühen Sechzigerjahren, als man ihm zuversichtlich beigebracht hatte, dass die einzige Religion, die in der Zukunft eine Chance hätte, eine besonders milde, moderne sei, die nicht an Wunder oder die Gottheit Christi oder eine buchstäbliche, leibhaftige Auferstehung glaubte. Doch nun stand er kurz vor der Rente und sah, dass die meisten aus seiner Pastorengeneration in leeren Kirchen vor schrumpfenden, überalterten Gemeinden standen. Er stellte fest: „Ironischerweise können sie überhaupt nur noch ihren Betrieb aufrechterhalten, indem sie an wachsende, lebendige Gemeinden vermieten, in denen ausgerechnet all die Lehren vertreten werden, von denen uns gesagt wurde, dass sie bald obsolet seien.“

Es zeigt sich also, dass der Individualismus der modernen Kultur nicht zwangsläufig zu einem Rückgang von Religion führt. Nur ererbte Religion ist betroffen, in die man hineingeboren wird.73 Schwindende Religion steht und fällt mit der zugeordneten nationalen oder ethnischen Identität, so wie „du bist Inder, also bist du Hindu; du bist Norweger, also bist du Lutheraner; du bist Polin, also bist du Katholikin; du bist Amerikaner, also solltest du ein gutes Mitglied einer christlichen Gemeinde sein“. Gewählte Religion geht in modernen Gesellschaften nicht zurück.74 In den USA konvertieren allein zu den evangelikalen Protestanten mehr Menschen als wegbleiben – was wir nach Berger, Casanova, Davie und anderen Soziologen genau so zu erwarten hätten.75

In der nichtwestlichen Welt ist das Wachstum des Christentums dagegen erstaunlich. Am letzten Sonntag sind in China mehr Christen zum Gottesdienst zusammengekommen als im gesamten „christlichen Westen“.76 Um 2020 wird die Christenheit in Ostasien (China, Japan, Korea) von 11,4 Millionen (1,2 Prozent der Bevölkerung) im Jahre 1970 auf 171,1 Millionen (10,5 Prozent) angewachsen sein.77 In Afrika waren 1910 nur 12 Millionen Menschen Christen (9 Prozent der Bevölkerung), doch 2020 werden es um die 630 Millionen sein (49,3 Prozent).78 Letzten Sonntag gingen in Nigeria, Kenia, Uganda, Tansania und Südafrika jeweils mehr Anglikaner in den Gottesdienst als Anglikaner und Episkopale in ganz Großbritannien und den USA zusammen.79

Kaufmann, selbst säkularer Akademiker aus Kanada, beantwortet seine Frage im Buchtitel Shall the Religious Inherit the Earth? („Sollen die Religiösen die Erde erben?“) auf der letzten Seite seines Buchs mit einem eindeutigen Ja. In einem Interview im New Humanist wurde er gefragt, ob der Säkularismus das Blatt noch wenden könne und es ihm „besser gelingen könne, Menschen für sich zu gewinnen“. Seine Antwort lautete: „Religion bietet diese Verzauberung, Sinnhaftigkeit und Emotion, die wir [Säkularisten] zurzeit nicht haben.“80

Glauben wozu?

Подняться наверх