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Die Erfahrung der Fülle

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Religion ist für viele Menschen außerdem sinnvoll, weil sie eine direkte Erfahrung mit dem Transzendenten gemacht haben, die über die schwächeren Ahnungen des ästhetischen Erlebens hinausgehen.

In seinem besagten Essay diskutiert Wood auch Charles Taylors Beschreibung von „Fülle“. Manchmal erlebt man eine Fülle, in der die Welt auf einmal voller Bedeutung, Kohärenz und Schönheit erscheint, die in unser normales Lebensgefühl hineinbrechen.36 Einige, die eine solche Erfahrung machen, wissen unweigerlich, dass das Leben unendlich mehr ist als nur körperliche Gesundheit, Wohlstand und Freiheit. Da ist eine Tiefe und ein Staunen; eine Art höhere Gegenwart jenseits des gewöhnlichen Lebens. Vor ihr mögen wir uns klein und unbedeutend fühlen, doch gleichzeitig voller Hoffnung und unbesorgt über die Dinge, die uns normalerweise Angst machen.

Solche Erfahrungen sind wahrscheinlich häufiger, als man meint. Denn die meisten Menschen erzählen davon nur sehr widerwillig, weil sie wissen, dass Familie und Freunde denken werden, dass sie neben der Spur sind. Frank Bruni schrieb in der New York Times über solche Erlebnisse, während derer sich Menschen Gott nah und dann doch wieder ganz fern fühlen, weil sie zum Schluss zu führen scheinen, dass es etwas jenseits der materiellen, sichtbaren Welt gibt.37 Die Philosophen Hubert Dreyfus und Sean Kelly nennen diese Erfahrung „das Rauschen“.38 Der englische Philosoph Roger Scruton spricht vom Empfinden einer „höheren Ordnung“, das mit Macht in unser Bewusstsein eindringt.39

Ein klassisches Beispiel ist das, was Lord Kenneth Clarke passierte, einem der bekanntesten Kunstgeschichtler und -autoren, der die BBC-Serie Civilization produziert hat. In einem autobiografischen Bericht beschreibt er eine merkwürdige Episode während eines Aufenthalts in einer Villa in Italien:

Ich hatte eine religiöse Erfahrung. Es geschah in der Kirche von San Lorenzo, aber es schien nicht in Verbindung mit der harmonischen Schönheit der Architektur zu stehen. Ich kann nur sagen, dass für ein paar Minuten mein ganzes Wesen erleuchtet war von einer Art himmlischer Freude, die weit intensiver war als alles, was ich vorher erlebt hatte. … Doch so wunderbar dieser Zustand war, er stellte mich vor ein unangenehmes Problem. Mein Leben war nicht gerade schuldlos. Ich würde mich ändern müssen. Meine Familie würde denken, dass ich verrückt geworden sei und vielleicht war es letztlich doch eine Einbildung, denn einer solchen Flut von Gnade war ich in keiner Hinsicht würdig. Allmählich ließ die Wirkung nach und ich gab mir keine Mühe, sie zu bewahren. Ich denke, es war richtig. Ich war zu sehr in der Welt verankert, um meinen Kurs zu ändern. Aber ich hatte den „Finger Gottes“ gespürt, dessen bin ich mir ziemlich sicher, und auch wenn die Erinnerung daran verblasst ist, hilft sie mir immer noch, die Freuden der Heiligen zu verstehen.40

Ein ähnliches Erlebnis hatte Václav Havel, der tschechische Schriftsteller und spätere Staatsmann. Eines Tages im Gefängnis sah er hinaus zu einer großen Baumkrone und wurde plötzlich von einer Empfindung übermannt, als ob er sich „auf einmal hoch über alle Koordinaten meines momentanen Daseins auf der Welt erhoben hatte in eine Art ‚Über-Zeit‘ der totalen Gegenwart alles Schönen, das ich je gesehen und erlebt hatte“ – was man traditionell als Ewigkeit bezeichnen würde. Er wurde „durchflutet von einer Art höchst glücklichem Einklang mit der Welt und mir selbst, mit diesem Augenblick …“ und spürte, dass er an der Schwelle zum Unendlichen stand.41

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