Читать книгу Glauben wozu? - Timothy Keller - Страница 17

Kapitel 2 Beruht Religion nicht auf Glaube und säkulares Denken auf Wissen?

Оглавление

Die Medien unserer Zeit sind voller Geschichten von Menschen, die sich von Gott abgekehrt haben. S. A. Joyce erzählt:

In den Jahren nach dem Militär ging ich zurück zum College – nicht um ernsthaft einen Abschluss anzupeilen, sondern einfach um mich weiterzubilden … Stück für Stück bildete ich mir einen humanistischen Wertekanon, der mir sehr viel stimmiger und zur modernen Welt passender erschien als ein versteinerter Dekalog biblischer Tabus. Mir wurde klar, dass das Universum sich ziemlich so verhielt, als ob es keinen Gott gäbe – zumindest keinen, der sich für die Welt interessierte. Allmählich dämmerte mir, dass es in der großen Weltordnung eigentlich gar kein System gab … Gott hatte keine beobachtbare Funktion und keinen berechtigten Zweck. Mir kam die Frage, was mit solch einem Gott ist, der keine Funktion hat und auf den es keine Hinweise gibt. Die offensichtliche Antwort war: Er existiert nicht. Die dogmatischen Scheuklappen und das Joch der Furcht waren endlich weg. Das Universum erschien mir in einem heilsamen neuen Licht, im tröstlichen Glühen einer Realität, die nicht länger verdreht wurde, weder von der fast cartoonhaften, künstlichen „Herrlichkeit“ von Mythos und Wunder noch vom Blenden schrecklichen Höllenfeuers. Ich war frei!

Er nennt seine Schilderung „One night I prayed to know the truth. The next morning I discovered I was an atheist“1 („Eines Nachts betete ich um die Wahrheit. Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass ich ein Atheist war“). Wenn wir solche Berichte über den Verlust des Glaubens lesen oder hören, können wir bestimmte Muster feststellen. Ich habe S. A. Joyce zitiert, weil seine Geschichte geradezu prototypisch ist. Die Erzähler berichten, dass sie vor dem Mangel an empirischen Beweisen für die Behauptungen der Religion standen und mit dem Problem des Bösen in einer Welt fertigwerden mussten, die doch angeblich unter der Leitung eines guten, allmächtigen Gottes stand. Sie entschieden, dass das Universum keine Spuren des traditionellen Gottes aufweist. Wenn sie einen Augenblick lang fürchteten, dass ein Leben ohne Gott sinnlos sein könnte, stießen sie schnell auf reflektierte Nichtgläubige, die sich viel stärker für Gerechtigkeit und Gleichheit engagierten als die meisten religiösen Menschen, die sie kannten. Daraus schlossen sie, dass Menschen keinen Gott brauchen, um ein gutes Leben zu führen und eine Welt zu bauen, in der jeder leben kann. Eigentlich ließe sich diese Aufgabe sogar ohne jede Religion sehr viel besser verwirklichen. Nachdem sie mit diesen Entdeckungen und ihren Konsequenzen gerungen und die Kosten eines „Comingouts“ als Skeptiker überschlagen hatten, entschieden sie schließlich, sich der Realität zu stellen und die Wahrheit zu sagen.2

Das ist eine packende Geschichte: Nichtglaube als das Ergebnis der Suche nach Wahrheit und dem Mut, sich dem Leben so zu stellen, wie es ist. Das bedeutet, dass der Nichtgläubige sich auch jedem Gläubigen stellt, der sich zu diesem Grad an Objektivität und Wahrhaftigkeit aufschwingen kann. Ein säkularer Kommentator schrieb: „Ich finde es grotesk für jeden denkenden Erwachsenen, an Gott zu glauben, wo es doch niemals nur den kleinsten Beweis für seine Existenz gegeben hat. Ich bin offen für jeden, der meint, einen solchen Beweis zu haben, dass er versucht, mir seinen Glauben zu beweisen.“3

Solche Geschichten zeigen oft auch den Wunsch nach einer Welt, die nicht länger endlos gespalten wird zwischen wahren Gläubigen und Ungläubigen. Menschen, die sich dem Säkularismus neu zugewandt haben, haben das Gefühl, nun andere Menschen besser annehmen zu können. Eine Website mit dem Namen „A Good Life without God“ („Ein gutes Leben ohne Gott“) argumentiert, dass wir ohne den Einfluss von Religion endlich „eine tolerante, offene Gesellschaft mit gegenseitigem Respekt und Gleichwertigkeit aller Menschen“ schaffen können, „wo es nicht die eine Weltanschauung gibt, sondern viele, und alle Menschen ihr Potenzial entfalten können“.4

Doch hinter diesen Geschichten liegt ein tieferes Narrativ, nämlich dass religiöse Menschen in blindem Glauben leben, während säkulare und nichtgläubige ihren Standpunkt auf Vernunft und Beweise gründen. Die meisten, die ihren Glauben verloren haben, sagten, dass sie einfach dem Diktat der Vernunft folgen. Doch Anthropologen wie Talal Asad kontern, dass sie eigentlich nur ein moralisches System (mit seinen Insidern und Außenseitern, Helden und Abtrünnigen und seinen unbeweisbaren Annahmen über die Realität) durch ein anderes ersetzen. Asad nennt die typische Geschichte vom Glaubensverlust als Wechsel „vom Dschungel der Dunkelheit ins Licht“5. Der Plot ist ein Held (oder eine Heldin), der/die den Mut hat, selbst zu denken.

Charles Taylor nennt diese Erzählung die „Subtraktionsgeschichte“6. Menschen sehen in ihrer säkularen Perspektive einfach das, was übrig ist, nachdem Wissenschaft und Vernunft ihren vorherigen Glauben an das Übernatürliche abgezogen haben. Als der Aberglaube einmal weg war, konnten sie das sehen, was schon immer da gewesen war: die Vernunft als alleinige Lieferantin von Wahrheit und die „humanistischen Werte“ von Gleichheit und Freiheit. Doch jeder dieser Gedanken ist eine neue Überzeugung, ein mit Werten gespickter Glaubenssatz, der empirisch nicht zu beweisen ist. Der Übergang von Religion zum Säkularismus ist weniger ein Verlust an Glauben als vielmehr eine Verschiebung zu einem neuen Glaubenssystem und in eine neue Glaubensgemeinschaft, in der die Linien zwischen Richtig und Falsch anders gezogen werden.

Dies ist einer der Hauptgründe, warum viele säkulare Menschen es nicht für lohnend erachten, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen. Sie gehen davon aus, dass Religion eine Sache des Glaubens ist, während Nichtglaube vor allem auf den Verstand setzt. Ich weiß, dass für die meisten Leser der Gedanke neu sein wird, dass säkulares Denken ebenso ein Glaubenssystem ist. Darum will ich damit beginnen, diese säkularen Glaubensüberzeugungen sichtbar zu machen.

Glauben wozu?

Подняться наверх