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Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

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Vor ein paar Jahren kam eine Chinesin in unsere Gemeinde, die an der Columbia University einen Abschluss in Politikwissenschaften machte. Sie war auch deswegen zum Studium in die USA gekommen, weil Sozialwissenschaftler in China zunehmend davon ausgingen, dass der christliche Transzendenzgedanke die geschichtliche Grundlage für die Ideen der Gleichheit und der Menschenrechte war.8 Sie sagte, dass die Wissenschaft allein letztlich keine Gleichheit der Menschen beweisen könne. Ich war überrascht, doch sie meinte, dass diese Gedanken nicht nur unter manchen chinesischen Akademikern umgingen, sondern auch von einigen der anerkanntesten westlichen Denker so geäußert würden. Sie verhalf mir zu der Einsicht, dass Glaube in exklusiven Philosophenkreisen gerade so etwas wie ein Comeback feierte und zunehmend gesehen wurde, dass der säkularen Vernunft (Rationalität und Wissenschaft ohne jeden Glauben an eine transzendente, übernatürliche Realität) wichtige Dinge fehlen, die unsere Gesellschaft braucht.

Jürgen Habermas, einer der prominentesten Philosophen der Welt, hat über Jahrzehnte die Sicht der Aufklärung verfochten, dass im öffentlichen Raum nur säkulare Vernunft gelten sollte.9 Doch kürzlich verschreckte Habermas das philosophische Establishment mit einer geänderten Haltung, die religiösem Glauben positiver gegenübersteht. Er geht nun davon aus, dass die säkulare Vernunft nicht alleine für das aufkommen kann, was er für die Substanz des Menschlichen hält. Er zeigt auf, dass Wissenschaft alleine nicht in der Lage ist zu beurteilen, ob ihre technischen Erfindungen für die Menschen gut oder schlecht sind. Dazu muss man wissen, was ein guter Mensch ist, und Wissenschaft kann nicht über Moral entscheiden oder solche definieren.10 Die Sozialwissenschaften können uns vielleicht sagen, was das Leben ist, aber nicht, wie es sein sollte.11 Der Traum der Humanisten im 19. Jahrhundert war, dass der Niedergang der Religion zu weniger Krieg und Konflikten führen würde. Stattdessen wurde das 20. Jahrhundert von noch mehr Gewalt geprägt, die von Staaten ausging, die angeblich nichtreligiös waren und auf der Grundlage von wissenschaftlicher Vernunft agierten. Denen, die immer noch darauf vertrauen, dass die Philosophie in der Lage sei zu bestimmen, was wahr und was falsch ist, rät Habermas, auf die „Katastrophen des 20. Jahrhunderts“ zu schauen – „religiöse Faschisten und kommunistische Staaten, die auf der Grundlage praktischer Vernunft agieren – um zu sehen, dass dieses Vertrauen fehl am Platz ist“.12 Im Namen der Religion sind furchtbare Taten begangen worden, aber der Säkularismus hat sich nicht als Verbesserung erwiesen.

Belege für die These von Habermas kommen aus der aktuellen Forschung über die Geschichte der Eugenik im frühen 20. Jahrhundert. Thomas C. Leonard von der Princeton University zeigt, dass man vor hundert Jahren unter progressiver, wissenschaftlich orientierter Sozialpolitik weithin verstand, Menschen mit Gendefekten zu sterilisieren oder zu inhaftieren.13 1926 fand der berühmte Scopes-Prozess in Tennessee gegen John T. Scopes statt, weil er Evolution unterrichtet hatte. Doch nur wenige erinnern sich daran, dass sein verwendetes Lehrbuch (Civic Biology von George Hunter) nicht nur Evolution lehrte, sondern sich auch dafür aussprach, solche Schichten von Menschen zu sterilisieren oder gar zu töten, die den Genpool schwächen würden, indem sie „Krankheit, Unmoral und Verbrechen über das ganze Land ausbreiten“.14 Das war üblich für damalige Lehrbücher.

Nicht die Wissenschaft, sondern die Schrecken des Zweiten Weltkriegs brachten die Eugenik in Verruf. Die Verbindung zwischen genetischer Ausstattung und verschiedenen Formen unsozialen Verhaltens ist nie widerlegt worden, im Gegenteil. Neuere Studien zeigen beispielsweise, dass ein bestimmtes Rezeptorgen bei Jungen die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Schullaufbahn schmälert, selbst bei ergänzender Nachhilfe durch Lehrer und Eltern.15 Es gibt viele Verbindungen zwischen Vererbung und Krankheit, Süchten und anderen Verhaltensproblemen. Thomas Leonard stellt fest, dass „Eugenik und Rassenlehre in der Progressive Era [Phase in der Geschichte der USA, 1890–1920, Anm. d. Übers.] keine Pseudowissenschaften waren, sondern Wissenschaft“.16 Es war vollkommen logisch zu schließen, dass es sozialer und ökonomisch kosteneffektiver war, wenn Menschen, deren Gene anfällig für ein unproduktives Leben waren, ihren Gen-Code nicht weitergaben. Doch die Todeslager riefen die moralische Intuition wach, dass Eugenik schlecht ist, auch wenn sie wissenschaftlich effizient sein mag. Doch wenn man das glaubt, dann braucht man Unterstützung von außerhalb der Wissenschaft und der streng rationalen Kosten-Nutzen-Analyse praktischer Vernunft. Wo kann man nach dieser Unterstützung suchen? Habermas schreibt: „Die Ideen von Freiheit … von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie [sind] unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik … Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“17

Damit soll überhaupt nicht geleugnet sein, dass Wissenschaft und Vernunft Quellen enormen und unersetzbaren Wohls für die menschliche Gesellschaft sind. Doch sie können nicht für sich alleine zum Leitprinzip einer Gesellschaft werden.18 Dies wird in einer Rede gut zusammengefasst, die seinerzeit eigentlich für den Scopes-Prozess geschrieben, dann aber nicht gehalten wurde: „Wissenschaft ist eine wunderbare materielle Kraft, aber sie ist keine Lehrerin von Moral. Sie kann wie eine perfekte Maschine funktionieren, aber sie bringt keine moralischen Grenzen mit, um die Gesellschaft vor dem Missbrauch dieser Maschine zu schützen … Wissenschaft lehrt keine brüderliche Liebe (und kann es auch nicht).“19 Säkulare, wissenschaftliche Vernunft ist etwas sehr Gutes, aber soll sie als ausschließliche Grundlage für das Leben der Menschen herhalten, wird man schnell feststellen, dass zu vieles fehlt.

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